Ein Schlitten, zwei Männer und dreizehn pechschwarze Hunde: Reisebuchautor Thomas Bauer ist mit einem Jäger durch Ostgrönland gezogen.
Von Thomas Bauer.
Ittoqqortoormiit, der „Ort, an dem die großen Häuser stehen“ – im äußersten Nordosten Grönlands verdeutlichen bereits die Namen, dass man sich in ein Gebiet begibt, das abseits gängiger Touristenrouten liegt. Der kleinste und entlegenste Distrikt Grönlands befindet sich über achthundert Kilometer von der nächstgelegenen Siedlung, Tasilak, entfernt. Von Herbst bis weit ins Frühjahr hinein kann man ausschließlich per Hubschrauber anreisen.
1925 gründeten siebzig Wagemutige die Siedlung; inzwischen leben dort knapp fünfhundert Menschen. Ittoqqortoormiit ist bis heute die Heimat von Jägern. In deren Alltag will ich eintauchen, ihr Leben unter den hier vorherrschenden harschen Bedingungen für ein paar Wochen teilen. Ihre wichtigsten Begleiter, ihre Gefährten und Lebensgrundlage, sind die Grönlandhunde. Deren Bekanntschaft sollte ich gleich am Morgen nach meiner Ankunft machen.
Der Autor
Thomas Bauer, 1976 in Stuttgart geboren, studierte in Konstanz, war Greenpeace-Mitarbeiter in Paris und Journalist in Sydney. Mittlerweile arbeitet er für das Goethe-Institut in München. Er lebt in Fellbach und in Tutzing.
Thomas Bauer umrundete Frankreich auf einem Postrad, fuhr per Fahrradrikscha von Laos nach Singapur, folgte der Donau im Paddelboot zum Schwarzen Meer, streifte ein Vierteljahr durch Südamerika, ging zweieinhalbtausend Kilometer auf Jakobswegen durch Europa, umrundete die japanische Pilgerinsel Shikoku, zog per Hundeschlitten durch Grönland und beobachtete im Himalaya einen der letzten Schneeleoparden. Zu seinen Büchern gehören „Nurbu – Im Reich des Schneeleoparden“, „Frankreich erfahren – Eine Umrundung per Postrad“ und „Die Gesichter Südamerikas“.
Weitere Informationen: www.neugier-auf-die-welt.de
Die robustesten Hunde der Welt
„Awwuuuii“, ruft Inuuta mit mächtigem Bass und lässt die Peitsche über den Köpfen seiner dreizehn pechschwarzen Hunde knallen. Und nochmals: „Awwuuuii“, als ich auf den Schlitten steige und auf einem Bärenfell Platz nehme.
Das Schwierigste beim Hundeschlittenfahren ist, die Tiere ruhig zu halten. Das Loskommen stellt ebenso wenig ein Problem dar wie spontane Richtungswechsel. Es ist das Anhalten, das sich zuweilen verzögert, und das Stillstehen, das beinahe unmöglich ist, weil diese Manöver dem unbändigen Bewegungsdrang der Hunde zuwiderlaufen. Einige Musher, wie die Hundeführer aufgrund ihres antreibenden Kommandos „Mush! Mush!” in der Arktis genannt werden, greifen darum zu ungewöhnlichen Mitteln. Sie werfen eine Art Anker aus, der, wenn er sich im Eis verhakt, den Schlitten abrupt zum Stehen bringt und den Hunden zuweilen ernsthafte Verletzungen zufügt.
Inuuta schnaubt verächtlich, als er davon erzählt. Er ist in der Nähe von Ittoqqortoormiit geboren und hat sich über die Jahre den Ruf eines erfolgreichen Jägers erworben, ohne auf „modischen Schnickschnack” wie ein Schneemobil oder eine halbautomatische Waffe zurückzugreifen. Wenn seine Hunde still auf dem Boden liegen sollen, damit er auf die Pirsch gehen kann, bindet er ihnen, statt sie anzuketten, jeweils ein Vorderbein hoch. Ein Anker kommt ihm nicht auf den Schlitten. Stattdessen wirft er, wenn es steil bergab geht, ein geflochtenes Seil unter die Kufen, das sein Gefährt gerade so stark bremst, dass es nicht in die Hinterbeine der Hunde rauscht.
Ein drittes und letztes Mal lässt Inuuta sein weit schallendes „Awwuuuii” hören. Dann ruft er etwas nach vorn, das wie „geck” klingt. Im selben Moment staubt überall um uns herum Schnee auf. Dreizehn Energiebündel stemmen sich mit vollem Körpergewicht in die Riemen.
Unfassbar, was die Hunde leisten! Eine halbe Tonne wiegt der Schlitten mit Inuuta und mir darauf. Jetzt aber springt er wie ein Kaninchen übers Eis. Ich klammere mich mit beiden Händen an den Außenseiten fest. Die Hunde sind jetzt toll vor Bewegungssucht. Sie lassen ein langgezogenes, melodisches Heulen hören, das die eisige Stille um uns herum zerbricht. Da sie in direkter Linie vom Wolf abstammen, können Grönlandhunde nicht bellen.
Wir sind eine seltsame Gemeinschaft, die sich dem minus vierzig Grad kalten Fahrtwind entgegenstemmt. Unter uns knackt das Eis wie Meeresbrandung. Der Himmel ist weißgrau, und weißgrau ist auch die Erde, auf der wir uns bewegen. Als seien Inuuta und ich in einen gigantischen Milchtopf gefallen. Die auf und ab wippenden Rücken der Hunde sind die einzigen Anhaltspunkte für unsere Augen. Hätte Inuuta diese Tupfer im überbordenden Weißgrau nicht ständig vor der Nase, würde er eines Tages vielleicht verrückt werden. Der britische Polarforscher George Nares hatte, um diesem Schicksal zu entgehen, bunte Motive auf die Mäntel seiner Männer malen lassen, als er im neunzehnten Jahrhundert zu Fuß in Grönland unterwegs war.
Die „Arnold Schwarzeneggers” ihrer Art
Alle halbe Stunde dreht Inuuta sich zu mir um, als wolle er sich vergewissern, dass ich noch immer hinter ihm sitze. Er ist kein Mann großer Worte; nur wenn er die Hunde antreibt, kommen seine Befehle direkt und klar – und werden ebenso prompt umgesetzt.
Seit über zweitausend Jahren werden die grönländischen Schlittenhunde von den Inuit auf ein einziges Ziel hin gezüchtet: unglaubliche Lasten bei brutaler Kälte durch eine lebensfeindliche Einöde ohne festen Boden zu ziehen. Das Ergebnis ist eine von der FCI (Fédération Cynologique Internationale) anerkannte, etwa sechzig Zentimeter große Hunderasse, die nur in Nordgrönland vorkommt und nicht mit Huskys verwechselt werden sollte, die in Sibirien und Alaska leben. Um eine Vermischung mit schwächeren Arten zu verhindern, dürfen Grönlandhunde ausschließlich nördlich des Polarkreises gehalten werden. An sie darf nichts Weiches und nichts Zweifelndes kommen. Man nennt diese Gebiete in Grönland daher auch „Hundeschlittendistrikte“.
Nicht zuletzt dank der einhundert Grönlandhunde, die Roald Amundsen der Königlichen Grönland-Handelsgesellschaft im Jahr 1910 abkaufte, gewann er im Jahr darauf den „Wettlauf“ zum Südpol, während sein Rivale Robert Falcon Scott auf Ponys und Motorschlitten setzte – und auf dem Rückweg vom Pol ums Leben kam. Es waren Grönlandhunde, die Alfred Wegener auf seinen Arktis-Expeditionen unterstützten und die Robert Edwin Peary Richtung Nordpol begleiteten.
Auch ich fühle mich wie ein Eroberer, und ich habe keine Angst! Ich trage drei Lagen Spezialunterwäsche, darüber eine wattierte Hose, zwei Fleece-Oberteile, zwei windabweisende Jacken und über alldem noch einen gefütterten Winteranzug. Meine beiden Mützen schließen mit der Schneebrille und der Skimaske ab, sodass mein gesamtes Gesicht verhüllt ist. Über alldem thronen drei Kapuzen. Kurzum: Ich sehe ein wenig aus wie die Taliban-Ausgabe des Rocksängers Meat Loaf, der sich den Künstlernamen „Fleischklops“ aufgrund seiner Leibesfülle gegeben hat. Das Erstaunliche ist jedoch, dass ich noch immer friere. Vielleicht waren Amundsen und Co. doch zähere Kerle als ich.
Die Hunde sind hingegen in ihrem Element. Inuutas Leithund stürmt voran, als zöge er unseren Schlitten allein. Seine Leine ist bis kurz vor dem Zerreißen gespannt. Obwohl er am weitesten von Inuuta entfernt läuft, ist die Bindung zwischen diesen beiden am stärksten. Zwar reicht die Peitsche des Schlittenlenkers nicht bis zu ihm, was der Leithund auch weiß. Diese braucht es jedoch gar nicht, da er augenblicklich auf die raubeinigen Angaben seines Herrchens reagiert. Fast scheint es, als ahne er Inuutas Kommandos bereits im Voraus, als zöge er den Schlitten bereits probeweise in die richtige Richtung, ehe der entsprechende Ruf von hinten erschallt. Inuuta und sein Leithund brauchen einander: Ihr Vertrauen in den jeweils anderen ist der Kitt, der das gesamte Gespann zusammenhält.
Inuutas Hunde gelten als die stärksten und diszipliniertesten in ganz Ittoqqortoormiit. Als wir unser Etappenziel, eine rustikale Jagdhütte, erreichen, kümmert sich Inuuta bar jeder Romantik, doch voller Respekt zunächst um seine Schützlinge. „Wenn das Eis unter meinem Schlitten bricht, muss sich das ganze Gefährt wie eine Einheit verhalten“, erklärt er, als ich ihn mit seinem rauen Umgangston konfrontiere. „Zögerte einer meiner Hunde auch nur den Bruchteil einer Sekunde, meine Befehle auszuführen, wären wir in solchen Momenten alle verloren. Glaub mir, ich kenne die Stärken und Schwächen meiner Hunde besser als diese selbst. Und ich weiß, dass sie eine Rangordnung brauchen.“
Grönländische Zustände mit europäischen Maßstäben zu messen, leitet zielsicher in die Irre. Die Natur duldet nördlich des Polarkreises keine Schwäche. Eindeutige Kommandos, richtig gewählte Anreize und sofortige Sanktionen nach Fehlverhalten sind daher die Grundlagen jedes Schlittengespanns. Schon aus Eigeninteresse tut Inuuta alles, um seine Hunde vor Gefahren zu schützen. „Sie können richtig zutraulich sein, wenn man sie erst geknackt hat“, befindet er. „Überzeug dich selbst!“
Der Leithund sträubt die Haare und lässt ein grollendes Gurgeln hören, das direkt aus seinem Bauch kommt, als ich mich ihm nähere. Er ist ein zotteliges Muskelpaket, das ohne zu zögern einen ausgewachsenen Eisbären angreifen würde. Zugleich wedelt er jedoch mit dem Schwanz. Ich beuge mich zu ihm hinab und rede beruhigend auf ihn ein. Sein Knurren wird eine Spur weniger bedrohlich: das entscheidende Indiz dafür, dass die Balance zwischen Miss- und Zutrauen zugunsten des Letzteren aufgehoben worden ist. Inuuta nickt kaum merklich, und ich lege dem Leithund meine Hand auf den Rücken. Plötzlich bettelt das ganze Gespann um meine Liebkosungen – die allerdings eher einer Rauferei gleichen. Heben die Tiere eine Pfote, wölben sich Bizepse nach außen, und wenn sie sich spielerisch an meinen Beinen reiben, muss ich mein Gewicht fest auf den Boden drücken, um nicht zur Seite geschoben zu werden. Grönländische Schlittenhunde sind die Arnold Schwarzeneggers ihrer Art.
Im Rhythmus der Arktis
Wie lange werden Musher wie Inuuta noch übers Eis jagen? Erleben wir derzeit, wie sich diese über zweitausendjährige arktische Tradition auflöst? Inuutas Sohn wünscht sich bereits ein Schneemobil, das im Gegensatz zu den Hunden keine Aufzucht und kein jahrelanges Training voraussetzt.
Trotzdem passt selbst in Zeiten von Klimawandel und technischer Neuerungen nichts besser zu Nordgrönland als die Schlittenhunde. In ihrer Rauheit und Verspieltheit, der unbändigen Kraft und dem grenzenlosen Vorwärtsdrang spiegelt sich die Arktis wider. Sie hat die Hunde geformt; hier sind sie zuhause. Ihr wölfisches Jodeln ist pure Augenblicksbezogenheit und erinnert mich gleichzeitig an urtümliche Zeiten.
In der Arktis scheint die Landschaft wochenlang festgefroren zu sein; nicht einmal ein Aufeinanderfolgen von Tag und Nacht sorgt für Abwechslung. Dann aber wird diese Langeweile blitzartig aufgespalten von Momenten höchster Konzentration und bis ins Unfassbare gesteigerter Spannung. Wer in genau dem Bruchteil der Sekunde, in dem eine Robbe auftaucht, ein Riss durchs Eis fährt, die Konturen eines Bären im Schnee sichtbar werden, nicht das Richtige tut, geht unter. Es ist, als halte das Leben tagelang den Atem an, um ein auf das Extremste komprimierte Erleben ohne Vorwarnung umso lauter hinauszuschreien. Drei Tage Claude Monets Wasserpflanzen und dann plötzlich Edvard Munchs Schrei. Fünf Tage lang ohne Unterlass „Herzilein“ und dann unvermittelt „Born to be wild“. Eine Woche lang Lindenstraße und dann ohne Vorwarnung Bruce Willis.
Die Hunde sind an dieses Leben optimal angepasst. Bei minus fünfundvierzig Grad legen sie sich in den Schnee und schlafen die Nacht durch. Ihre weiche, dichte Unterwolle unter glattem Deckhaar schützt sie vor der Kälte. Am nächsten Morgen ist ihr Fell mit einer Eisschicht überzogen. Sie stehen auf, schütteln die eisige Hülle ab und freuen sich aufs Weiterziehen. Täglich wächst meine Achtung vor ihnen.
Am letzten Tag meiner Reise fühle ich mich bereits als Teil einer Gemeinschaft, deren Mitglieder sich kennen und respektieren. Wie Inuuta messe ich die Zeit in Ereignissen: noch dreieinhalb Stunden, bis wir den Schlitten vor uns eingeholt haben, noch fünf Minuten oder Stunden, bis die Robbe Atem schöpft. Wie er esse ich rohes Robbenfleisch und Eisbär – der übrigens wie eine Mischung aus alter Schuhcreme und einem trockenen Lederlumpen schmeckt. Keine Sorge, Sie haben nicht viel verpasst.
Aufrecht stehen Inuuta und ich auf dem Schlitten, so wollen wir die Reise beenden – Ittoqqortoormiit, wir kommen! Der Musher blickt mich an, und zum ersten Mal meine ich etwas wie Anerkennung in seinem Gesicht zu sehen. Ich ziehe die Mütze tief ins Gesicht und drücke meine Schneebrille fest auf die Augen. „Geck“, rufe ich dann nach vorn. Mit einem hellen Vibrieren spannt sich das Seil. Überall um uns herum staubt Schnee auf. Der Schlitten führt den Eis-Salsa auf, und wir werfen uns neuen grandiosen Abenteuern entgegen.
INFORMATIONEN
■ Allgemeine Auskünfte über Ostgrönland, Ittoqqortoormiit und Hundeschlittentouren erteilt das Tourismusbüro in Nuuk (Grönland), Telefon (+299) 34 28 20, Fax (+299) 32 28 77, E-Mail: info@greenland.com, Adresse: Hans Egedesvej 29, 3900 Nuuk, Grønland. Website (dt./engl.): http://www.greenland.com
■ Hundeschlittentouren in Ostgrönland bietet der Veranstalter Nanu Travel in Ittoqqortoormiit an: http://www.nanutravel.dk/ (engl.). Ideale Reisezeit hierfür ist März/April, wenn die Tage bereits lang und sonnenreich sind, das Eis aber dennoch flächendeckend trägt.
■ Anreise: Flug mit AirBerlin oder Icelandair nach Reykjavik, Weiterflug mit Air Greenland nach Nerlerit Inaat (Flughafen Ittoqqortoormiit), von dort per Helikopter nach Ittoqqortoormiit. Die Anreise ist spektakulär und beschwerlich. Kosten je nach Jahreszeit, Auslastung der Flugrouten und Buchungstermin zwischen 700 und 1.600 Euro.
■ Übernachtet wird in Zelten und in spartanisch eingerichteten Jagdhütten. Man ist umgeben von Hundegebell und Nordlicht.
■ Essen & Trinken: Moschusochsenherzen, fermentierte Narwalhaut und Eisbärfleisch: Wer in Ostgrönland das Leben der Jäger teilt, tut gut daran, kulinarisch flexibel zu sein. Am Ende hat man etwas zu erzählen und wird sich darüber bewusst, dass rohe Robbe auch nicht viel anders schmeckt als Sushi.
■ Hintergrundinformationen: Immer wieder lesenswert ist Peter Hoegs Klassiker „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“. Kim Leine beschreibt in „Die Untreue der Grönländer“ auf amüsante Art den Alltag in Ostgrönland. Anna Kims literarische Reportage „Invasionen des Privaten“ geht auf Identitätsprobleme heutiger Inuit ein. Gelungene Kurzgeschichten und Essays präsentiert das von Freddy Langer herausgegebene Lesebuch „Grönland“.
■ Reiseliteratur: Vom Autor dieses Beitrags ist das Buch „Mush! Grönland per Hundeschlitten“ erschienen. Gebundene Ausgabe mit Farbbildstrecken, 236 Seiten, Wiesenburg Verlag (2013), ISBN 978-3943528800, Preis: 24,80 Euro.
© Fotos: Thomas Bauer