China: Durch die Tigersprungschlucht

Tigersprungschlucht
© Erik Lorenz

Wo Wasser die Gewalt von Giganten hat.

Hohe Berge, schroffe Abhänge, ein wilder Fluss und abgelegene Dörfer: Die Tigersprungschlucht in der chinesischen Provinz Yunnan ist nicht nur eine Schlucht der Rekorde, sie bietet auch einen der aufregendsten Wanderwege des Landes.

Die Haut im Gesicht des greisen Mannes ist durchfurcht von tiefen Falten. Verträumt sitzt er im Schneidersitz am Wegesrand, bedenklich nahe am Abgrund. Er hat auf einem Felsvorsprung Platz genommen, der ihm einen Blick in die Tiefe ermöglicht. Als er den einsamen Wanderer bemerkt, der sich nähert, hebt er die rechte Hand zu einem Gruß und deutet zugleich mit der linken den steilen Hang hinab, auf dem er seine Ziegen grasen lässt.

Ziegenmilch und -käse verkaufe er, so erzählt er, hin und wieder auch etwas Fleisch. Die Ziegen sind sein ganzer Besitz, sein Leben. Den Großteil seiner Zeit verbringt er damit, ihnen beim Grasen zuzusehen.

Es ist nicht viel Fläche, die den Menschen in der Tigersprungschlucht für Viehzucht und Landwirtschaft zur Verfügung steht, aber sie wissen sie zu nutzen. An kleinen Siedlungen führt der Pfad vorüber und an Terrassen, auf denen Getreide und Reis angebaut werden. Dorfbewohner arbeiten emsig auf den Feldern: Ein alter Mann treibt einen widerspenstigen Bullen mit einem einscharigen Schwingpflug vor sich her, ein Mädchen trägt in einem geflochtenen Bastkorb, den sie sich auf den Rücken geschnallt hat, die Ernte heim, eine Frau durchwühlt die dunkle Erde nach Steinen, die sie in einen Topf wirft. Ein kleiner Bach plätschert über den Weg, Hühner und Küken tummeln sich, Schmetterlinge spielen mit dem lauen Wind.

Nicht nur mir bieten sich diese Bilder: Eine Wanderin, nennen wir sie unter Würdigung ihrer Gesichtsfarbe Rose, quält sich den Berg hinauf. Die viel zu warme Daunenjacke hat sie wohl schon im Tal angezogen. Auf ihrem Rücken thront ein unerklärlich großer, schief sitzender Rucksack. Von der rechten Schulter hängt eine Fototasche, links baumelt der ausgepackte Fotoapparat bei jedem Schritt gegen ihre Hüfte. Offensichtlich hat sie sich übernommen. Fragte sie mich – was sie selbstverständlich nicht tut –, würde ich ihr empfehlen, sofort umzukehren, bevor es zu spät ist und sie entkräftet liegen bleibt. Ich grüße sie mit einem mitleidigen und leicht verwunderten „Guten Tag“, sie weicht meinem Blick aus und presst verbittert die Lippen aufeinander. Ich erahne ein gegrummeltes „Hey“. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich überhole sie und lasse sie schnell hinter mir. Der schmale Pfad schraubt sich weiter in die Höhe.

Tigersprungschlucht

Er ist einer von zwei Wegen durch die Schlucht. Der untere, asphaltiert und eben, ermöglicht vor allem Tagestouristen aus der Umgebung einen willkommenen Ausflug ins Grüne. Der obere bietet etwas anderes: aufregende Aussichten und eine Menge Schweiß. Die Schlucht ist 15 Kilometer lang, aber die Wanderung über den oberen Pfad übersteigt diesen Wert bei Weitem. Hin und her windet sich der Pfad, einer zuckenden Schlange gleich, sich an steile Hänge schmiegend, von Südwesten nach Nordosten, vorbei am Haba-Schneeberg und dem Jadedrachen-Schneeberg. Weit unter den Gipfeln strömt der Jangtse dahin, der mit über 6.300 Kilometern längste Fluss Asiens.

Schilder oder eindeutige Markierungen gibt es keine; immer wieder kreuzen Trampelpfade meinen Weg, die dazu verleiten, abgelegene Farmen oder tiefere Stellen der Schlucht zu erkunden. Verblichene Farbpfeile, vor Jahrzehnten in unregelmäßigen Abständen auf Steine aufgetragen, die entlang des Weges herumliegen, geben etwas Orientierung. Ansonsten helfen die Anwohner, die in kleinen Dörfern aus einer Handvoll Häusern auf die richtigen Abzweigungen verweisen.

Tigersprungschlucht

Von einem natürlichen Balkon hinter einer Felsnase eröffnet sich unerwartet ein überwältigender Blick in die Schlucht: unten das Wasser, das sich als braunes Band um die Kurven wälzt, links die mit graugrünem Gestrüpp bewachsenen Hänge, über die der Pfad führt, rechts beinahe bedrohlich mächtige Berge. Unten krallen sich die Wurzeln einzelner Büsche und Bäume in die Risse; oben, wo die Luft dünner und kälter ist, liegt Schnee. Die bis zu 6.000 Meter hohen, gletscherbedeckten Spitzen verschwinden in den Wolken. Es ist eine gewaltige, senkrechte Wand, die sich jenseits des Flusses erhebt, und sie nimmt mir den Atem, als laste ihr Gewicht auf meinen Schultern.

Eine schrille Stimme ruft mich, andächtig im Anblick versunken, zurück in die Realität. Neben dem natürlichen Balkon kauert sich eine kleine Hütte aus grauen Ziegeln in eine Wölbung in der Felswand. Davor steht eine Frau in einer traditionellen weinroten Stoffweste. Sie redet mit hoher Stimme auf mich ein und pocht immer wieder auf ein Metallschild, das an der Hütte hängt und in nicht ganz richtigem Englisch darauf hinweist, dass die Anwohner die Wanderwege mit viel Mühe angelegt hätten und instand hielten. Deshalb habe jeder drei Yuan zu entrichten, der hier ein Foto mache.

Nicht nur die Frau behauptet, maßgeblich an der Schaffung der Wege beteiligt zu sein. Da ist zum Beispiel Sean, Besitzer des Walnut-Gasthauses in der zweiten Hälfte der Schlucht. In seinen Broschüren überschüttet er seine Konkurrenten mit regelrechten Hasstiraden und warnt seine Besucher, nicht auf die Lügen anderer Gasthausbetreiber zu hören, die sich alle angesammelt hätten, nachdem er als Pionier und Vorreiter höchstpersönlich die Schlucht zugänglich gemacht habe, und die ihm nun, so meint er, das Geschäft kaputtmachen wollen. Er wie jene Anwohner, die Anspruch auf Anerkennung und Wegzoll erheben, scheinen zu verdrängen, dass der Pfad nicht nur den Wanderern dient, sondern auch den wenigen Bewohnern der Schlucht, die ihre Dörfer erreichen wollen, unerlässlich ist. Dennoch bekommt die Frau ihr Geld. Sie beruhigt sich langsam und schenkt mir gar ein Lächeln.

Lesereise Hongkong

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Lesereise Hongkong – Ein Flugloch für den Drachen“ von Erik Lorenz und Rasso Knoller.

  • Picus Verlag
  • ISBN: 978-3-7117-5323-6
  • 132 Seiten
  • 15,-
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Lesereise Hongkong

Ich wende mich wieder dem Ausblick zu und mache ein paar Fotos, immerhin habe ich für die Erlaubnis bezahlt. Doch der Frieden ist nicht von Dauer. Eine Reisegruppe von fünf Dänen taucht auf und fotografiert die Schlucht. Als sie sich anschickt, ohne zu löhnen weiterzugehen, verliert die kleine chinesische Frau die Fassung. Sie pocht immer heftiger auf das Schild, schimpft wüst, zerrt an Rucksäcken und Kamerataschen und fuchtelt böse mit dem Finger. Die Reisenden versuchen sie abzuschütteln, bitten sie, sich zu beruhigen. „Sie sehen nicht so aus, als hätten Sie an diesem Weg mitgearbeitet“, erklärt ein junger Däne in einem Englisch, das sie sicher nicht versteht. „Er führt bestimmt seit hundert Jahren hier lang.“

Es ist verstörend, anzusehen, wie die alte Frau sich auf die wohlhabenden westlichen Wanderer stürzt. Die Reisenden haben bereits 50 Yuan Parkeintritt bezahlt und weigern sich, für das Foto eines Ausblicks zu bezahlen, der jener Frau kaum gehören kann. Die Frau jedoch lebt von den bescheidenen Einnahmen, ernährt vermutlich eine Familie davon.

Allerdings stehen ihr auch gefälligere Geschäftszweige zur Wahl. Einige Kilometer später treffe ich eine zahnlose Frau, die jeden Tag eine Kühlbox voller Eis den Weg herauf schleppt und den durstenden Wanderern kühle Getränke anbietet. Sie sitzt auf grobem Geröll, neben sich eine Schüssel mit Wasser, zu dem das Eis geschmolzen ist. Darin warten Getränke in Plastikflaschen und Dosen auf den Verzehr. Neben den Getränken handelt die Frau mit Walnüssen, die, in kleinen Päckchen verpackt, auf einer Decke liegen. Gerade knackt sie eine Nuss mit einem länglichen Stein.

„Das mache ich seit zwanzig Jahren so“, erzählt sie grinsend und streckt eine Hand mit der geknackten Nuss aus. Sie schmeckt ausgezeichnet, und das wenige Sekunden später verkaufte Päckchen ermutigt die Frau, meine Aufmerksamkeit auf eine andere Art von Päckchen zu lenken: Haschisch in bemerkenswerter Menge. Sie nickt aufmunternd, aber es ist Zeit, weiterzugehen.

Langsam reißt die Wolkendecke auf, die Sonne schickt ihre Strahlen auf die Klippen auf der anderen Seite der Schlucht und verstärkt die Farbenvielfalt. Ich passiere wieder ein beschauliches Dorf, von Getreideterrassen umgeben.

Die Naxi sind Nachfahren tibetischer Nomaden, die sich vor Jahrhunderten in der Gegend um Lijiang ansiedelten und heute im ganzen Südwesten Chinas leben. Sie sind eine von 55 anerkannten ethnischen Minderheiten des Landes. Deshalb hoffe ich im Naxi Gasthaus auf eine traditionelle Bewirtschaftung und typische Naxi-Speisen. Ich verspreche mir eine gewisse Urtümlichkeit, Ruhe und guten Kaffee. Stattdessen erwartet mich ein überfüllter Innenhof voller plappernder Gäste. Wo kommen die alle her? Es gibt kaum noch freie Tische, Angestellte sind nicht in Sicht, das einzig Urtümliche ist ein Holzgerüst, an dem riesige Mengen Mais trocknen. Da ich Verpflegung bei mir habe, setze ich meinen Weg fort.

Tigersprungschlucht_Mais

Am Dorfausgang flankieren mich reihenweise Maultiere mit den Hinterteilen zum Weg. Ich husche hindurch, darauf bedacht, keines zu verärgern und zum Austreten (mit dem Bein) zu veranlassen. Ihre Besitzer haben sich auf Grasbüscheln in der Nähe niedergelassen und warten auf Touristen, die sich durch die Schlucht schleppen lassen wollen. Ich folge nicht immer dem Hauptpfad, sondern biege auch nach beiden Seiten ab, zu kleinen Farmen oder tiefer in die Schlucht hinab. So kommt es, dass ich schließlich, Yakfleisch und etwas trockenes Gebäck mampfend, erneut Rose überhole. Inzwischen geht sie stark gebeugt. Die Winterjacke hat sie sich um den Bauch gewickelt, was ihre Bewegungsfreiheit zusätzlich einschränkt. Der überdimensionale Rucksack hängt immer noch schief auf ihrem Rücken, wie ein Bilderrahmen, den nur noch ein Nagel in der oberen rechten Ecke an der Wand hält. Mittlerweile ist sie nicht mehr allein. Ein Chinese auf einem gelangweilt dahintrottenden Maultier hat sich an ihre Fersen gehängt.

„Ich glaube, er bietet Ihnen an, auf seinem Tier zu reiten“, sage ich vorsichtig.

„Ich weiß!“, schnaubt sie zurück. Aufgrund ihres Akzentes bin ich sicher, dass sie Britin ist. „Er will zweihundert Yuan dafür haben – kommt nicht infrage!“

Schritt für Schritt schiebt sie sich voran und sieht dabei aus, als werde sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Ich urteile für mich, dass sie die Angelegenheit mit Humor nehmen, sich ihr Scheitern eingestehen und das Geld bezahlen sollte, aber ich habe wenig Lust auf ein Streitgespräch und behalte den Gedanken für mich.

„Warum tun Sie sich die Wanderung mit diesem kolossalen Rucksack an?“, frage ich stattdessen. Sie stöhnt. Für einen Moment glaube ich, dies sei die einzige Antwort, die ich erhalten werde, doch dann fügt sie hinzu: „Ich habe nicht geahnt, dass es so beschwerlich sein würde.“

Das beantwortet für mich nicht die Frage, aber ich belasse es dabei. Wieder einmal verabschieden wir uns mit einem bedauernswerten Mangel an Herzlichkeit. Sie und ihr neuer Schatten bleiben rasch hinter mir zurück.

Tigersprungschlucht
Tigersprungschlucht

Bald erreiche ich eine Hütte, an der eine freundliche Chinesin Verpflegung verkauft und mich einlädt, auf bereitstehenden Holzbänken Platz zu nehmen und Kraft zu schöpfen. Sie hat sich wohlüberlegt, wo sie ihre Waren feilbietet. An der Hüttenwand leuchtet in roter Farbe ein gut gemeinter Hinweis: „Stärken Sie sich vor den 28 Biegungen.“ Durch eine Cola erfrischt, laufe ich weiter, und von nun an geht es nur noch bergauf. Neue Kurven folgen auf enge Biegungen, verbunden durch steile Wegstücke aus Geröll und Staub. Höher und höher windet sich der Weg und fordert Waden und Oberschenkel heraus.

Oben angelangt streife ich meinen Rucksack ab und sinke zu Boden. Ein Stein stützt mich, während ich darauf warte, dass das Blut etwas weniger heftig durch meine Schläfen pocht. Ein paar Fotos, ein paar Schlucke, ein paar Happen, ein paar Seiten in meinem Buch – ich bin zufrieden mit meiner Leistung und genehmige mir eine längere Pause.

Als ich nach einer Weile auf den gewundenen Pfad unter mir hinabblicke, bietet sich mir ein unerwarteter Anblick: Rose, die mit ihrem Gepäck selbst wie ein Packesel aussieht, hat immer noch nicht aufgegeben. Sie taumelt in meine Richtung, hinter ihr folgen der Maultierführer und sein Tier auf den Schritt. Langsam, sehr langsam, kommen die Drei näher: Er beobachtet Rose aus kühlen Augen, die auf ihrem Rücken ruhen. Alle zehn Meter hält sie an und setzt sich – dann stoppt auch er, blickt mit ausdruckslosen Zügen auf sie hinab und lauert auf das Geschäft des Tages. Geht sie weiter, setzt er sich ebenfalls in Bewegung. Vom Hals des Maultiers hängt eine große Goldglocke, die fortwährend bimmelt und als akustische Verhöhnung durch die Schlucht schallt. Es ist ein bizarres Bild: Rose ist der vollkommenen Verzweiflung nahe, und zwei Schritt hinter ihr bimmelt die Maultierglocke fröhlich vor sich hin. Es erinnert mich an einen Aasgeier, der in der Wüste geduldig über seiner Beute kreist, die praktisch bereits tot ist, es nur noch nicht begriffen hat.

Es dauert zehn weitere Minuten, bis Rose sich neben mir in den Staub fallen lässt. Ich bin nicht sicher, ob sie keucht oder weint, aber die Geräusche, die sie ausstößt, klingen nicht glücklich. Als sie wieder sprechen kann, sind ihre ersten Worte: „Einhundert. Einhundert Yuan.“

Der Maultierführer schaut von seinem Maultier auf sie herab und mustert sie kalkulierend.

„Dreihundert Yuan“, sagt er.

Ich unterdrücke ein Lachen, begreife, dass er es ernst meint, und halte die Luft an, eine Explosion befürchtend. Aber für eine Explosion fehlt der grantigen Britin die Kraft. Sie schüttelt nur ungläubig den Kopf und wendet sich an mich.

„Ich habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen“, japst sie.

„Sie sollten auf das Tier umsteigen“, sage ich eindringlich. „Sie sollten langsam vernünftig werden.“

Sie schüttelt erneut den Kopf. „Das ist Wucher. Er nutzt meine Notsituation aus – ich weigere mich, solch einen Wucherpreis zu zahlen!“

„Das ändert nichts an der Tatsache, dass Sie am Ende sind.“

„Ich bin noch lange nicht am Ende.“

Sie hustet und dreht sich von mir weg – ich verstehe die Botschaft. Meine Pause ist ohnehin lang genug gewesen.

Oben, am höchsten Punkt der gesamten Wanderung, zeigt sich das erste Mal seit Langem das Wasser, das weit unten durch eine Stromschnelle tost. Darüber ein klarer Himmel durchsetzt von weißen Wolken. Die Sonne fällt in die Schlucht und verleiht ihr neue Dimensionen. Mit beinahe vier Kilometern ist sie so tief, dass sich das Klima an Kante und Sohle deutlich unterscheidet. Unten Buschwerk, weit darüber Koniferen und Laubwälder, an steileren Hängen Heidelandschaften und Tundrenvegetation. Dazwischen bunte Farbtupfer durch Blütenpflanzen wie Mohn, Enzian, Orchideen und Rhododendron. Schneeleoparden soll es in den Bergen geben, Braune Stumpfnasenaffen und Yunnan-Goldstumpfnasen in den Wäldern, und die Bengalischen Tiger, die der Schlucht ihren Namen gaben – vielleicht zeigt sich eine der Raubkatzen noch?

Der Pfad verläuft direkt am Abgrund. Baumstämme helfen, eine Felsspalte zu überqueren, die ein steil fließender Bach in das Gestein gegraben hat. Bald säumen Bambus und Farne den Weg, die Luftfeuchtigkeit steigt. Eine dünne, braune Schlange huscht vom Weg ins Unterholz.

Nach sieben oder acht Stunden erreiche ich das Dorf Bendiwan, in dem Anwohner mit Vorschlaghämmern in einem kleinen Steinbruch mühsam Steine für neue Häuser zerschlagen. Alle Häuser des Dorfes bestehen aus Natursteinen, die mit Zement verfugt sind. Traditionelle abgerundete chinesische Schindeln bedecken die Dächer. Unscheinbare Pfeile leiten vom Hauptweg fort und hin zu einem Haus, dessen Äußeres wenig verheißungsvoll aussieht, das sich aber als Halfway Point ausgibt – und somit als die anvisierte Unterkunft für die Nacht. Nach dem Naxi Gasthaus erwarte ich ohnehin nicht viel. Ich gehe eine Außentreppe hinab und durch einen Durchgang zum Innenhof, der zum verdutzten Stehenbleiben auffordert. Er ist umgeben von wunderschönen Holzfassaden: abstrakten Mustern und Reliefs, die Türen, Wände und Fenster zieren. Steinmosaike bilden den Boden, Ranken, Blumen und geschmackvoll gepflanzte Büsche ergänzen die Holzfarben um Grüntöne und vervollkommnen die liebevolle Gestaltung.

Ich bewältige die Herausforderung, bei den Hostelbetreibern, deren Englisch ähnlich überschaubar ist wie mein Chinesisch, ein Zimmer zu reservieren und ein Essen zu bestellen, und nehme mein Zimmer in Augenschein. Es ist winzig und spartanisch eingerichtet, aber der Blick durch die großen Schiebefenster macht alles vergessen: ein paar kleine Sträucher, einige schmale Getreideterrassen, dahinter der Abhang, die Bodenlosigkeit und die überwältigende Wand aus rohem Stein direkt gegenüber. Der Jangtse tobt ungesehen in der Schlucht. Auch die zur Schlucht hin offenen – es gibt keine Fenster oder Mauern – Gemeinschaftstoiletten bieten eine ungestörte Aussicht in die Schlucht. Hier kann das Geschäft durchaus etwas länger dauern.

Vom Innenhof führt eine Treppe auf eine Dachterrasse, auf der aus Baumstämmen geschlagene Stühle und Tische zum Müßiggang verleiten. Aber die stilsicheren, in die Umgebung passenden Gegenstände geraten rasch zur Nebensächlichkeit angesichts der Szenerie, die sich jenseits der Terrasse ausbreitet. Den Namen Inspirationsterrasse trägt sie zu Recht – ein spektakulärerer Ausblick ist schwer vorstellbar. Ich trete an das wacklige Holzgeländer und schaue in den tiefen Abgrund und auf die Bergwände dahinter. Gezackte Geröllnarben und hellbraune Bahnen durchziehen das ansonsten braunschwarze Gestein wie Tränen, dort, wo nach Regenfällen das Wasser in die Schlucht schießt und dem Jangtse zusätzliche Kraft verleiht. Immer wieder wandert der Blick hinüber zu den massiven Felswänden auf der anderen Seite, um jedes Mal verblüfft zu verharren. Die Berge sind riesig und dabei so nahe, als wären sie nicht mehr als ein Bild, das die ausgestreckte Hand beinahe berühren kann. An anderen Stellen ist die Schlucht noch schmaler: Zum Teil sind es von einer Seite zur anderen gerade einmal dreißig bis sechzig Meter.

Tigersprungschlucht
Tigersprungschlucht
Tigersprungschlucht

Ich lasse mich mit einem Dali-Bier an einem der Tische nieder und warte auf mein Essen. Ein zahnloser Mann mit verwitterten Zügen setzt sich zu mir und streckt seine Hand aus. Die Haut, die sich wie dünnes Papier über seine knorrigen Finger spannt, sieht aus, als würde sie rascheln, wenn man sie berührt.

„Ich bin Herr Liang“, sagt er in einem Englisch, das nur mit großer Anstrengung zu verstehen ist, und lächelt das erste zahnlose Lächeln von vielen. Er arbeitet gelegentlich in dem Hostel, wenn Hilfe benötigt wird, und kümmert sich ansonsten um ein paar nahe gelegene Felder. Den Großteil der Arbeit, die für seine Existenz nötig ist, verrichten seine Kinder und Enkelkinder. Weil er weiß, welche Art Geschichten Besucher der Schlucht gern hören, beginnt er eine Legende zu erzählen, die in Yunnan jedes Kind kennt: „Der Jäger war dem Tiger seit Tagen durch die Felslandschaft gefolgt“, sagt der Mann, sucht nach den rechten Worten und fährt, begleitet von Gesten, fort: „Da verharrte der Tiger, sah sich nach seinem Verfolger um und fauchte. Die Jagd stand kurz vor ihrem Ende, denn der Jäger hatte seine Beute in eine Falle getrieben: Vor dem Tiger spaltete eine Schlucht die Erde, durch die ein gewaltiger Fluss toste. Hinter ihm nahte der unbarmherzige Jäger. In dieser ausweglosen Situation entdeckte der Tiger einen großen Felsen, der in der Mitte des Flusses aus dem Wasser ragte. Der Tiger sprang auf den Stein und weiter auf die andere Seite. Er überwand die Schlucht, ohne von den Fluten mitgerissen zu werden, und entkam seinem Verfolger.“

Dieses Ereignis, das nach den Mythen der Bewohner Yunnans vor unermesslicher Zeit geschah, verlieh nicht nur dem rettenden Felsen Berühmtheit, sondern stand auch Pate für den Namen der ganzen Schlucht, in der sich die Jagd ereignete. Heute ist die Tigersprungschlucht weniger für die ihrem Namen zugrunde liegende Legende bekannt als dafür, dass sie eine der steilsten und tiefsten Schluchten der Welt ist, je nach herangezogenen Kriterien ist sie sogar Spitzenreiter in beiden Kategorien.

„Ich lebe in der Schlucht, seit ich denken kann“, schließt Herr Liang seine Erzählung und verzieht den Mund erneut zu einem Lächeln, das seine Augen zum Funkeln bringt.

Der Mann am Eingang der Schlucht bezeichnet seine Ziegen als sein Leben, eine Frau knackt seit zwanzig Jahren Walnüsse, Herr Liang kennt nichts anderes als diese Schlucht. Im Leben der meisten hier beheimateten Menschen scheint sich nur selten etwas zu ändern.

„Bald könnte sich hier viel verändern“, sagt Herr Leung, als habe er meinen Gedanken erraten. „Es ist unklar, wie lange es die Schlucht noch geben wird.“

„Wegen der Staudämme?“

Er nickt. Im energiehungrigen China gibt es mehr als 85.000 Staudämme – die Hälfte der weltweiten Gesamtzahl. 2003, als der kolossale Drei-Schluchten-Damm nur vier Jahre vor der Vollendung stand, begann die Regierung mit Planungen zu einem weiteren Jangtse-Megastaudamm: Dieses Mal sollte die Tigersprungschlucht geflutet werden. Wäre das Projekt 2007 nicht vorerst gestoppt worden, hätte die Schlucht viele ihrer landschaftlichen Besonderheiten eingebüßt. Ich schätze mich also glücklich, dass ich den Ort in seiner Ursprünglichkeit kennenlernen kann, mit seinen hohen Bergen, schroffen Abhängen, dem wilden Fluss und den abgelegenen Dörfern.

„Wurde der Plan nicht verworfen?“

Herr Liang zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was der aktuelle Stand ist, ich erhalte nicht viele Neuigkeiten. Ich werde einfach abwarten und das Beste hoffen.“ Er lächelt, sein Blick entfernt sich, und er verliert sich in Gedanken. Schweigen begrüßt die aufziehende Dunkelheit, die sich wie ein Teppich ausbreitet und die harten Konturen der Felsen aufweicht.

Tigersprungschlucht-Leung

Als es bereits dunkel ist, stolpert Rose auf den Innenhof. Sie lässt den Rucksack auf den Boden fallen und sinkt in die Knie. Ich gehe zu ihr hinunter und reiche ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen, aber sie winkt nur ab und schnauft.

„Sind Sie bis jetzt gelaufen?“, frage ich.

„Nein“, gibt sie zurück und ringt weiter nach Luft. „Ich war zu langsam. Die letzten Kilometer bin ich geritten.“

„Sehr vernünftig. Das Geld werden Sie verschmerzen.“

„Ich habe nur einhundert Yuan bezahlt.“

Ich schaue sie erstaunt an. Sie sieht zu mir auf und wirft mir einen trotzigen Blick zu.

„Einhundert Yuan“, stelle ich fest, ohne mich zu bemühen, meine Zweifel zu verbergen. „Es scheint, als habe der Maultiertreiber plötzlich seine Menschlichkeit entdeckt.“ Ich zucke mit den Schultern. „Gut für Sie.“

Stöhnend rafft sie sich auf. „Also schön, ich habe 380 Yuan gezahlt. Dieser Mistkerl hat mich abgezockt. Aber es ging nicht anders.“

„Es wäre sehr wohl anders gegangen. Sie hätten nur ihren Kopf einschalten und das Angebot rechtzeitig annehmen müssen. Man muss kein geschulter Maultiertreiber sein, um zu erkennen, dass Sie in diesen Bergen so viel verloren haben wie die Queen bei einem Heavy Metal Konzert.“

Das denke ich – aber natürlich sage ich es nicht. Denn: Unverbesserliche zu bekehren gelingt nur selten, deshalb hebe ich mir meine Weisheit für einen anderen Empfänger auf.

Der nächste Tag beginnt so, wie der vorangegangene geendet hat: mit einem blauen Himmel, über den sich vereinzelte Wolken schieben – weiße Fussel auf einem hellblauen Wollpullover. Rose ist bereits fort, als ich auf der Inspirationsterrasse mein Frühstück einnehme. Augenscheinlich weiß sie, dass sie die zweite Etappe in ihrem Tempo an einem Tag kaum schaffen kann. Eines muss ich ihr bei aller Unvernunft und Sturheit lassen: Ihr Wille ist stählern.

Die Landschaft verändert sich nur langsam. Felsnasen von einer Größe, die sie andernorts als einzelne Berge qualifizieren würden, ragen über die Hänge und werfen lange Schatten. Sie sehen aus, als könnten sie beim nächsten Frost abbrechen. Ein Wasserfall ergießt sich wie ein klarer Schleier über die Felswand und sprudelt über den Weg, einen angenehm kühlen Sprühregen verteilend.

Nach einer letzten Steigung zu einem exponierten Felsvorsprung geht es stetig bergab. Vereinzelte Bäume begrenzen den Weg, ansonsten wachsen nur Gräser, Farne und hüfthohe Sträucher, die sich an die Hänge klammern. Schließlich endet der Trampelpfad und trifft auf eine Asphaltstraße, von der nach ein paar Hundert Metern und einer schwindelerregend hohen Brücke, die sich über eine Nebenschlucht schwingt, wiederum ein Pfad abzweigt. Lange kann ihm das Auge nicht folgen: Er verschwindet bald in die Tiefe.

Zwei alte Frauen verlangen zehn Yuan für die Benutzung, da der Anfang des Weges über ihr Grundstück führe. Nach einer kurzen Diskussion und mit Zähneknirschen bekommen auch sie ihr Geld. Dann geht es abwärts. Es folgt eine Dreiviertelstunde aus senkrechten, verrosteten Stahlleitern und Stufen, die in die Felswände gehauen wurden. Dazwischen kauern gelegentlich verfallene Hütten mit Dächern aus löchrigen Plastikplanen, unter denen Holzstühle für erschöpfte Wanderer vor sich hin faulen, sowie alte Sänften für müde Touristen. Die Sänften bestehen aus einem Stuhl, der mit Draht an zwei morschen Holzbalken befestigt ist. Offenbar werden sie nicht mehr genutzt. Das ist verständlich, denn mit den Konstruktionen sicher die steilen Stufen hinunter zu gelangen erscheint unmöglich.

Der Pfad wird weniger steil und taucht in ein Bambusdickicht ein, in dem vertrocknete Blättchen den Boden bedecken wie ein goldener Teppich. Der Geruch von schlammigem, aufgewühltem Wasser hängt in der Luft; das mächtige Rauschen verstärkt sich mit jedem Schritt. Endlich, tief in der Tigersprungschlucht, ist der Fluss erreicht, der mit seinen braunen Wassermassen durch eine Stromschnelle wütet. Stellenweise ist das Wasser nichts als weißbrauner Schaum. Es ist eine beeindruckende Darbietung der Kraft, die Milliarden von Wassertropfen gewinnen können, wenn man sie zusammen wirft. Das Getöse ist ohrenbetäubend. Das Wasser wird gegen riesige Felsbrocken geschleudert, die vor Ewigkeiten aus den Klippen darüber abgebrochen sind, die sich bis zu 3.800 Meter über den Fluss erheben. Einer der Felsbrocken ist der Tigersprungstein, mit dessen Hilfe der Tiger dem Jäger entkommen war. Eine unberechenbare Stelle wie diese ist 1986 dem chinesischen Jangtse-Rafting-Team zum Verhängnis geworden. Zwar gelang es, zum ersten Mal ein Boot durch die Schlucht zu navigieren, aber das Teammitglied Sun Zhiling und ein Journalist der Youth World starben bei dem Versuch.

Tigersprungschlucht

Der Aufstieg verleiht dem Wort schweißtreibend neue Dimensionen. Mühsale, die zuvor als herausfordernd erschienen, verblassen im Vergleich zu dieser nicht enden wollenden, aber willkommen Qual. Ich beginne zu ahnen, wie sich Rose an den 28 Biegungen gefühlt haben muss: das verzweifelte Ringen um Luft, das Keuchen und Einatmen in einem schier unmöglich schnellen Wechsel, der immer noch zu langsam scheint, um dem Erstickungstod zu entgehen. Bei aller Mühe bleibt aber doch genug Energie, um den Aufwand zu würdigen, dessen es bedurft haben muss, den Pfad in den Fels zu schlagen. Wenn die heutigen Dorfbewohner auch nur einen Bruchteil zu dieser Leistung beigetragen haben, verdienen sie nicht nur tiefe Anerkennung, sondern auch die bescheidene Entlohnung, die sie verlangen. Und ihr Engagement geht über das fragliche, lange zurückliegende Anlegen des Pfades hinaus: An verschiedenen Kurven stehen Bastkörbe, die als Mülleimer dienen. Offensichtlich müssen die Bewohner selbst hinabsteigen, um sie zu leeren und die Schlucht sauber zu halten. Unten im Bambusdickicht haben sie vor Sackgassen junge Bambusstöcke mit Lianen und Bast zu vergänglichen Zäunen verbunden, um den rechten Weg zu weisen.

Wieder oben angelangt gebe ich den beiden alten Frauen – dieses Mal ausgesprochen gern – zehn weitere Yuan. Sie bedanken sich, schnattern auf mich ein und stecken mir einen Snickers-Riegel aus ihrem kleinen Laden zu, der aus einem einzigen Holzregal an der Außenwand ihres Häuschens besteht.

Tigersprungschlucht

Kurz vor dem Ende der Schlucht heften sich zwei plüschig-gelbe Gänseküken an meine Fersen und rennen mir hinterher, aufgeregt piepsend und mit den kleinen Flügeln schlagend wie Aufziehfiguren. Auch als ich in einen zügigen Laufschritt falle, lassen sie nicht von mir ab. Eine kleine Jagd entsteht: Ich fliehe, sie folgen mir begeistert. Die Szene erinnert mich an den Tiger und den Jäger, aber über die Schlucht zu setzen, um den Küken zu entkommen, erscheint mir doch etwas gewagt.

Die Küken sorgen für einige Aufregung, aber ein Tiger hat sich während der zweitägigen Wanderung nicht gezeigt – natürlich nicht: Die Tiger Südchinas sind vom Aussterben bedroht und wurden in der Gegend seit Jahrzehnten nicht gesehen. Doch das macht nichts, denn die Schlucht ist in ihrer Rauheit selbst wie ein Tiger: ungezähmt und wild. Ob sie nun die tiefste, steilste, schmalste und spektakulärste Schlucht der Welt ist oder nicht, sie ist gewiss ein Ort der Superlative, ein Ort des Staunens, ein Ort, an dem die Berge in den Himmel wachsen und das Wasser die Gewalt von Giganten hat.

„Ich bin nicht eure Mama“, erkläre ich den Küken, aber sie lassen sich nicht überzeugen. Da läuft eine Frau auf die Straße und entdeckt uns. Sie eilt herbei, lacht mich an und scheucht die Küken – nicht ohne Mühe, denn sie haben definitiv Gefallen an mir gefunden – zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind.

Alle Fotos: © Erik Lorenz

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