Von Miriam Spies.
Von Berggorillas, Ameisen und Regenwäldern
Willkommen zum letzten Teil meiner Ruanda-Reportage. Für den Schluss habe ich mir etwas ganz Besonderes aufgehoben. Und zwar unsere Wanderung zu den Berggorillas. Wobei das Wort „Wanderung“ für diesen Gewaltmarsch eine fahrlässige Untertreibung ist. Hätte ich auch nur geahnt, was dieses Erlebnis mir abverlangen würde, ich hätte vermutlich gekniffen. Aber zum Glück hatte ich vorher keinerlei Vorstellung davon, was es heißt, sich stundenlang bei Hitze und Regen durchs Gebüsch zu schlagen und dabei etliche Höhenmeter hinter sich zu lassen. Ein Hoch auf die Unwissenheit. Führt sie einen doch manchmal an die sonderbarsten Orte.
1.
Der Weg zu den Berggorillas führt unausweichlich an einer Frau vorbei, die ich euch kurz vorstellen möchte. Mancher sagt, sie sei ein schwieriger Charakter gewesen. Wobei ich das durchaus als Kompliment verstehe. Denn während sich ein schwieriger Charakter nicht scheut, sich mit Wilderern, Behörden und anderen Institutionen anzulegen, hätte ein eher schlichtes Gemüt vermutlich schleunigst die Segel gestrichen. Sie wurde zur Anwältin, Lobbyistin und Wegbegleiterin der sanftmütigen Menschenaffen. Aber von vorne:
1966 hatte eine junge Amerikanerin eine verwegene Idee: Sie wollte nach Ruanda übersiedeln, um dort in einer Langzeitstudie das Verhalten der 1902 von Robert von Beringe entdeckten Berggorillas zu erforschen. Während der fast 20 Jahre, die Dian Fossey zusammen mit den sanften Riesen im Urwald im Westen Ruandas lebte, erforschte sie ihr Kommunikationsverhalten, ihre Familienstruktur und ihre Verhaltensweisen. Das war nur möglich, weil sie es geschafft hatte, eine von ihnen zu werden. Von den Silberrücken akzeptiert, vertrauten ihr die weiblichen Gorillas sogar ihre Jungtiere an. Die Zuneigung, die ihr von den Tieren entgegengebracht wurde, war allerdings deutlich größer als die, die die dort lebenden Wilderer für sie übrig hatten. Ihnen war die Zoologin ein Dorn im Auge, hatten sie zuvor doch ungehindert die einträglichen Menschenaffen jagen können. Die Selbstversorgung mit dem Fleisch der Tiere machte den kleinsten Teil aus. Lukrativer war der Handel mit dem als nicht nur in Afrika als Delikatesse geltenden Gorillafleisch, aber auch der Verkauf von Jungtieren an europäische Zoos oder von Aschenbechern aus Gorillaschädeln. Fossey ließ Gebiete einzäunen, stellte Parkwächter ein und entfernte regelmäßig Fallen. Die „Nyirmachabelli“ (Frau, die einsam im Wald lebt), wie sie von den Einheimischen genannt wurde, führte einen erbitterten Kampf gegen das Gorilla-Schlachten, den sie teuer bezahlte. Am Morgen des 27. Dezembers 1985 fand man ihre Leiche mit eingeschlagenem Schädel in ihrer Hütte im Karisoke Research Center. Wer ihrer vielen Widersacher sie aus dem Weg räumte, ist bis heute nicht aufgeklärt. Aber ihr Vermächtnis und das der Gorillas, mit denen sie zwei Jahrzehnte lebte, wurde weltberühmt. Ihre Autobiografie wurde drei Jahre nach ihrem Tod unter dem Namen „Gorillas im Nebel“ verfilmt. Damit lenkte sie noch nach ihrem Tod die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese faszinierenden Tiere – und ihre prekäre Situation. Als der Film 1988 in die Kinos kam, gab es weltweit schätzungsweise nur noch 200 Berggorillas. Mittlerweile hat sich die Population leicht erholt. Mit gut 1000 Tieren wurden sie 2018 von „vom Aussterben bedroht“ auf „stark gefährdet“ herabgestuft.
2.
Die Gorilla-Wanderung hatten außer mir nur sechs weitere Delegationsteilnehmer gebucht, darunter meine drei Lieblingsmitreisenden. Mit diesem Trio an meiner Seite konnte im Grunde gar nichts schiefgehen. In einem euphorischen Anflug von Selbstverhinderung hatten wir den Plan, am Abend vor der Abfahrt früh und nüchtern ins Bett zu gehen, irgendwann über Bord geworfen – oder schlichtweg vergessen. Der neue Plan hatte irgendwas mit einem Kinderspielplatz, einem Fluss, einem Swimmingpool und Whiskey zu tun. Entsprechend angezählt saß ich am nächsten Morgen in der Hotellobby und hoffte, dass die Sonnenbrille den Kopf schon irgendwie zusammenhalten würde. Wenigstens war so sichergestellt, dass ich heute nach dem Abendessen direkt ins Bett fallen würde.
Aber im Prinzip musste ich ja nichts weiter tun, als einen Tag lang im Auto zu sitzen. Dachte ich zumindest. Wer hätte ahnen können, dass der Grenzübertritt nach Uganda so ein Bohei werden würde? Während unser Fahrer gefühlte Stunden in einem kleinen Häuschen am Grenzübergang damit zubrachte, was auch immer zu regeln, hatte man uns samt Auto auf einem Parkplatz abgestellt. Rückblickend würde ich sagen, dass man uns an dieser Stelle noch mal die Gelegenheit geben wollte, tief durchzuatmen. Passkontrolle, Hygienezelt, Angabe von Namen und Beruf, Geld gegen Stempel tauschen – das alles hätte relativ zügig laufen können. Aufgrund von Missverständnissen, die ich hier nicht weiter ausführen möchte, zog sich dieses Prozedere allerdings über Stunden, die ich damit zubrachte, im Niemandsland zwischen Ruanda und Uganda auf und ab zu laufen. Bei der Einreise eines Mitglieds unserer Gruppe taten sich ungeahnte Schwierigkeiten auf – und wenn T. die Sache nicht irgendwann in die Hand genommen hätte, stünden wir vermutlich heute noch dort.
Eigentlich hätten wir lange vor Anbruch der Dunkelheit in unserer Lodge ankommen sollen. Doch dank des Grenz-Zwischenfalls brach bereits die Dämmerung über uns herein, als wir unsere Fahrt endlich fortsetzen durften. Wenn Ruandas grüne Hügel etwas Sanftsehnsüchtiges haben, haben Ugandas Hügel etwas unbeherrschbar Wildes. Ich will nicht ganz ausschließen, dass diese Ansicht von dem Umstand befeuert wurde, dass die schmalen, staubigen Straßen Ugandas von Schlaglöchern geziert sind, die das Ausmaß eines handelsüblichen Planschbeckens haben. „African Massage“ nennt man dieses unentwegte Gehopse und Gedotze und Geschüttel, gegen das garantiert keine Reisetabletten der Welt etwas ausrichten können. Die Hänge schienen hier steiler, die Hütten schiefer, die Straßen schmaler und als die Dunkelheit der Hügel mit der Dunkelheit des Himmels zu fusionieren schien, fragte ich mich, wie um alles in der Welt wir in dieser dunkelschwarzen Finsternis überhaupt noch Straßen ausmachen sollten, die schon bei Licht betrachtet nicht zwangsläufig als solche erkennbar waren. Im allerletzten Licht des Tages erreichten wir schließlich unsere Lodge.
3.
Das Tor zur Lodge war wie ein Tor zu einer anderen Welt. Auf einem riesigen Gelände schmiegten sich kleine hölzerne Suiten mit Terrassen in die hügelige Landschaft. Verbunden waren sie durch lange, gepflasterte Wege, die von warm leuchtenden Kugellampen gesäumt waren. Von oben betrachtet sah das Wegenetz aus wie eine gigantische leuchtende Perlenkette, die jemand durch die Landschaft gezogen hatte. Den Regenwald, der direkt an das Gelände angrenzte, konnte man in der Dunkelheit nur erahnen. Ich kam mir vor wie auf einer kleinen Insel, umgeben von einem eindringlichen Nichts. Ich war mit dem Staunen noch nicht fertig, als es auch schon Abendessen gab. Währenddessen erklärte uns unser Führer den Ablauf des kommenden Tages und die Spielregeln des Dschungels. Klang soweit alles nachvollziehbar.
Ein paar Stromausfälle später machten sich T., A. und ich – bewaffnet mit Wegbier und einer Taschenlampe – auf zu einer kleinen Nachtwanderung, um das Gelände zu erkunden. Wahrscheinlich war es gar nicht vorgesehen, dass man diese kleine Treppe runter bis zu dem stehenden Gewässer ging, hinter dem der Bwindi-Regenwald beginnt. Aber wer hätte uns aufhalten sollen? Irgendjemand hatte uns erzählt, dass eine Gorilla-Familie oft an den Waldrand kam. Ich glaube es war T., der den Gedanken auswilderte, mal gucken zu gehen. Und ich glaube es war A., der den Gedanken sofort aus der Welt räumte und sich bei der Gelegenheit auch gleich ins Bett verabschiedete. T. und ich saßen noch eine Weile auf meiner Veranda, tranken das restliche Bier und starrten in diese imposante Dunkelheit, bis uns einfiel, dass wir heute ja früh ins Bett hatten gehen wollten.
4.
Völlig gerädert falle ich ins Bett. Nur schlafen kann ich nicht. Mein Herz rast. Und wenn ich doch mal kurz einschlafe, stolpere ich durch wüste Albträume, genährt von all den Stimmen und Geräuschen der umliegenden Wälder. Um fünf entreißt mich mein Wecker endlich den Fängen meiner Schlaflosigkeit. Nicht mal die eiskalte Dusche bekommt mich an diesem Morgen wach. Die Aussicht, die kommenden Stunden damit zu verbringen, durch einen Wald zu wandern, löst nur verhaltene Begeisterung bei mir aus. Als ich die anderen im Restaurant treffe, schaue ich in sechs Paar winzige Augen. Niemand hat heute Nacht wirklich geschlafen. Die einen haben die Zeit bis zum Aufstehen auf der Toilette verbracht. Die anderen haben einfach nur so wachgelegen. Na, das kann ja heiter werden. Jeder von uns bekommt ein Lunchpaket und zwei Flaschen Wasser in die Hand gedrückt und dann sitzen wir auch schon wieder in den Autos.
Die Gorilla Valley Lodge ist gerade mal zehn Minuten vom Bwindi-Impenetrable-Forest entfernt. 1994 wurde der hiesige tropische Regenwald, der bereits in der Eiszeit entstanden ist, zum Weltnaturerbe ernannt. Das und so manch anderes erfahren wir, nachdem wir mit traditionellen Tänzen und Gesängen begrüßt worden sind. Was mir am Vortag gar nicht so klar war, ist, dass der 331 km² große Nationalpark, der sich im Bwindi-Regenwald befindet, auf einer Höhe von 1160 bis 2607 Metern liegt. Das erklärt auch mein Herzrasen, das ich immer noch nicht unter Kontrolle habe. 90 Säugetierarten beherbergt der Wald und 23 Vogelarten, die es ausschließlich hier gibt. Am meisten aber begeistert mich die Existenz von Kleinantilopen und Zwergelefanten. Ausgerechnet vor Letzteren werden wir gewarnt. Ihretwegen begleitet uns ein bewaffneter Parkpolizist auf unserer Tour, um unschöne Aufeinandertreffen protouristisch zu entscheiden. Aber auch die Ameisen, werden wir mehrfach gewarnt, gelte es zu meiden. Warum der Regenwald hier „impenetrable“ als festen Bestandteil in seinem Namen trägt, wird sich mir allerdings erst später erschließen.

5.
Die erste halbe Stunde geht es gemächlich, aber kontinuierlich bergauf. Ich tröste mich mit der Gewissheit, dass selbst der größte Hügel einen Gipfel hat. Abgesehen von meiner Müdigkeit, wirkt mir der Tag so, als könne er wunderschön werden. Wir haben Glück, es regnet nicht. Die Sonne scheint auf das lichte Blätterdach und malt da, wo sie nicht durchkommt, Schattenbilder auf unseren Weg. Der Ausblick ist atemberaubend. Je höher wir steigen, um so beeindruckender ist der Blick durch die gigantischen Bäume, durch die sich in Horizont und aufsteigendem Nebel verlierende Bergwaldketten aufbäumen. Hoch über unseren Köpfen singen Vögel. Sowieso spielt der Dschungel sein ganz eigenes Lied, eine Natursinfonie, die wir durchwandern. Ich hätte gerne mehr Zeit, hier und da stehenzubleiben, all das bewusst auf mich wirken zu lassen, aber Pausen sind nicht vorgesehen. Schließlich sind wir der Gorillas wegen hier und nicht um die unglaubliche Biodiversität der Fauna zu bestaunen. Im Stechschritt geht es tiefer und tiefer in den Wald.
Jeder von uns hat einen Träger, der bei Bedarf das Gepäck an sich nimmt und auf komplizierten Wegstrecken Halt bietet. Ich beschließe, davon bis auf Weiteres keinen Gebrauch zu machen, wandern wir doch schließlich auf einem breiten, trockenen Weg. Und auch der Zweck von Wanderstab und Handschuhen leuchtet mir nicht wirklich ein. Nach einer weiteren halben Stunde geht mir langsam, aber sicher die Puste aus. Die Wege sind zu Pfaden geworden. Über die Pfade ragen Bäume, unter denen man wahlweise durchkriechen oder darüber klettern kann. Ich habe das dringende Bedürfnis nach einer Pause, aber die Fährtenleser wollen weiter. Weiter, einen kleinen Hang hinunter, um dann grübelnd vor einem der vielen Bäche und Sümpfe zu stehen. Zum Drüberspringen ist er zu breit. Ich beobachte meine Trägerin, die ohne zu zögern einfach durchläuft und tue es ihr gleich. Meine Füße versinken bis zu den Knöcheln im Morast und als mir das kalte Schlammwasser durch den Schaft in die Schuhe läuft, versuche ich keine Miene zu verziehen. Danach geht’s eine nicht enden wollende Steigung hoch, bei der ich zum ersten Mal darüber nachdenke, umzukehren. Sowieso geht es hier nie einfach nur geradeaus, sondern immer nur abwechselnd steil bergauf oder steil bergab. Pfade gibt es längst keine mehr. Die Fährtenleser schlagen mit ihren Macheten Schneisen in das Gestrüpp. Man weiß nie, worauf man tritt. Mal sind unter dem weggeschlagenen Grünschnitt Wurzeln, in denen man hängenbleibt, mal sind es Löcher, in denen man sich den Fuß vertritt. Die Erde ist durchnässt und wird schnell zur Rutschbahn, wenn man nicht aufpasst. Langsam verstehe ich auch, was das mit den Handschuhen und den Stöcken soll. Völlig erschöpft greife ich nach allem, was ich zu fassen bekomme, um mich daran ein kleines Stück weiter nach vorne zu ziehen. Ohne Hilfe kommt man die schlammigen Hänge einfach nicht hoch. Oft halten die Äste, nach denen man greift. Manchmal aber auch nicht. Dann brechen sie, man verliert den Halt und rutscht bäuchlings wieder bergab. Manchmal hilft es, den Stock so tief wie möglich in die nasse Erde zu rammen und sich daran ein Stück nach vorne zu ziehen. Ich würde wirklich gerne sehen, wie sich hier Elefanten fortbewegen.
Schließlich reicht mir meine Trägerin die Hand, um mich hinter sich herzuziehen. Beinahe gelangweilt spaziert sie durch das unwegsame Unterholz in einem Tempo, in dem ich nicht folgen kann. Meine Füße wissen nicht, wohin sie treten sollen. Meine Hände wissen nicht, wonach sie greifen sollen. Und seit dem tückischen Angriff einer Ameise versuche ich unbedingt, nur noch offensichtlich ameisenfreies Gehölz anzufassen. Von den Bäumen bekomme ich nichts mehr mit. Was wir hier eigentlich machen, habe ich längst vergessen. Ich setze mich auf einen Baumstamm und beschließe aufzugeben. Ich will „Wenn ihr mich zurücklasst, könnt ihr es schaffen“ rufen, bekomme aber keinen Ton raus. Der hintere Teil der Gruppe schließt sich meinem Sitzstreik an. Wir schwitzen. Wir schnaufen. Wir röcheln. Wir wollen nicht mehr. Wir können nicht mehr. Einer der Fährtenleser lacht und ruft: „Jaja, da wollen sie Berggorillas sehen und dann wundern sie sich, dass sie dazu auf einen Berg müssen.“ Nach ein paar Minuten rappeln wir uns wieder auf. Hier liegenbleiben ist schließlich auch keine Option. Schon wegen der Ameisen.

6.
Ich bin gerade dabei mich damit abzufinden, nicht lebend aus diesem Dschungel wieder rauszukommen, als die Führer stehenbleiben. Sie bedeuten uns, leise zu sein, aber so sehr ich es auch versuche: Ich schnaufe wie eine alte Dampflok und meinen rot leuchtenden Kopf sieht man vermutlich noch drei Berge weiter. Die Fährtenleser haben die Fährte der Gorillas aufgenommen. Angeblich sind sie nicht mehr weit. Die Gorillas kennen die Führer und vertrauen ihnen. Sie haben verschiedene Laute, mit denen sie sich verständigen können. Ein Laut bedeutet: Entspannt euch, wir sind’s, alles ist gut. Mit einem anderen geben sie den Tieren zu verstehen, dass Gefahr droht und sie flüchten sollen. Fasziniert lausche ich in den Wald und tatsächlich antworten die Gorillas. Während wir uns ein wenig akklimatisieren, etwas trinken und unsere Kameras auspacken, schlagen zwei der Guides erst einen Trampelpfad und dann ein großzügiges Sichtfenster in den Busch und begrüßen die Tiere. Ab jetzt haben wir eine Stunde Zeit, sie zu beobachten – wenn sie uns lassen. Die Schmerzen sind vergessen. Der quatschende Schlamm in den Schuhen ist vergessen. Der Durst ist vergessen. Selbst an die Ameisen verschwende ich keinen Gedanken mehr. Ganz leise versammeln wir uns an der für uns freigeschlagenen Stelle. Niemand möchte die Menschenaffen erschrecken oder verjagen oder gar ihren Unmut auf uns ziehen. Dicht an dicht kauern wir im Unterholz und starren wie gebannt mit beseeltem Lächeln auf die kleine Familie. Das sind sie also, die Berggorillas. Ich hatte mir diesen Moment großartig vorgestellt. Aber für das Gefühl, das jetzt in mir aufsteigt, ist großartig ein zu kleines Wort. Etwa drei Meter von uns entfernt sitzt ein Silberrücken und schaut uns mit seinen sanften, braunen Augen an. Eine Gorilla-Dame lehnt entspannt an einem Baum und kaut auf einem Stück Holz rum. Zwei jüngere Affen toben miteinander spielend durch die Bäume. Keiner von ihnen stört sich an uns. Nur einer der kleinen Affen scheint sich zu fragen, wer diese sieben Lebewesen sind, die da in seinem Wohnzimmer knien und ihn mit offenen Mündern anstarren. Forsch nähert er sich uns bis auf wenige Zentimeter, als wolle er sich das mal genauer anschauen. Aber dann ist das Spiel mit seinem Bruder doch spannender als wir. Der Silberrücken hat sich mittlerweile vor uns hingelegt und ich werde den Eindruck nicht los, dass er extra für unsere Fotos posiert. Er liegt auf dem Bauch, hat die Ellbogen auf der Erde aufgestützt, kratzt sich am Kinn und schaut mit einem Blick ins Leere, der so aufrichtig melancholisch ist, dass ich mich frage, ob er was weiß, was ich nicht weiß. Alles an ihnen fesselt mich: Ihre Mimik, ihre Gestik, wie sie sich bewegen, wie sie nach etwas greifen, wie sie essen, vor allem aber ihre Blicke. Das Gorilla-Weibchen zupft sich ein paar Blätter von einem Baum und steckt sie sich gedankenverloren in den Mund. Ich muss daran denken, was uns unser Führer gestern beim Abendessen erzählt hat, nämlich, dass Gorillas, die sich erkältet haben, von Eukalyptusbäumen essen und auch ansonsten um die heilenden Kräfte bestimmter Pflanzen wissen. Zu gerne wüsste ich, was in ihren Köpfen vorgeht. Vielleicht geht es ihnen andersrum ja genauso.
Nach einer Weile zieht sich die Sippe wieder zurück ins Gebüsch. Aber wir haben Glück und können sie noch ein Stück begleiten. Wir dürfen den Silberrücken dabei beobachten, wie er sich in aller Ruhe den Bauch vollschlägt. Ein Babygorilla beobachtet uns von einem Baum aus. Und zwei Jungaffen hangeln und baumeln, schaukeln und klettern vor unserer Nase herum, als hätten sie für ihre Akrobatik nur auf Publikum gewartet.


Nach einer Stunde ist es Zeit, die Menschenaffen wieder alleine zu lassen. Die Fährtenleser verabschieden sich von den Tieren und wir treten den Rückweg an. Es fängt an zu regnen, was das unaufhörliche steil bergab/steil bergauf noch beschwerlicher macht, als es ohnehin gewesen wäre. Wir keuchen, röcheln, rutschen, fallen durch die erdrückende Schwüle des Regenwaldes, sind hälftig nassgeschwitzt, hälftig nassgeregnet, sind durstig und schmutzig. Aber keiner von uns würde jemals behaupten, dass es das nicht wert gewesen sei.
Nachklapp
Auch wenn die Zahl der Berggorillas mittlerweile auf über 1000 gestiegen und man zumindest in Ruanda und Uganda um ihren Arterhalt bemüht ist, sind sie nach wie vor bedroht. Die Buschfleischmärkte in Afrika boomen, aber auch in etlichen anderen Ländern der Welt gilt Affenfleisch als Delikatesse. London, Tokio und die USA seien zum Beispiel Großabnehmer von Schimpansenfleisch, so der Schimpansenexperte Marc Cronje. Aber auch die massive Rodung der Wälder ist eine Gefahr für die Tiere, deren Lebensraum immer kleiner wird.
In den letzten Jahren haben die Regierungen von Ruanda und Uganda den Wirtschaftsfaktor Gorilla entdeckt. Mittlerweile hängen unzählige Arbeitsplätze an den Menschenaffen: Fährtenleser, Parkpolizisten, Führer, Träger, aber natürlich auch Gastronomen und Hoteliers. Etliche ehemalige Wilderer arbeiten heutzutage als Führer im Bwindi-Nationalpark. Viele der umliegenden Gemeinden werden in die Ökotourismus-Konzepte eingebunden und so für die Problematik sensibilisiert.

Seit dem Ausbruch von Covid-19 ist der Berggorilla-Tourismus komplett zum Erliegen gekommen. Um das Desaster anhand von Zahlen zu verdeutlichen: 2017 hatten sich 40.000 Touristen aufgemacht, um die seltenen Tiere zu bestaunen. 900 US$ kostet eine Tour mittlerweile. Ein Großteil dieser nun fehlenden Gelder floss in den Schutz der Tiere, in die Gehälter und die Ausrüstung der Parkwächter.
Am 2. Juni 2020 wurde der 25-Jährige Silberrücken Rafiki tot im Bwindi-Impenetrable-Forest-Nationalpark gefunden. Wilderer hatten ihn mit einem Speer getötet, angeblich aus Notwehr. Den vier mutmaßlichen Tätern droht lebenslange Haft oder eine Geldstrafe von 5,4 Millionen Dollar. Trotz der harten Strafen, die in Uganda für das Töten einer vom Aussterben bedrohten Tierart verhängt werden, befürchten Beobachter, dass der Tod des Silberrückens Rafiki nur der Anfang war und Corona eine neue Wilderer-Welle auslösen könnte. Die Abschottung des Landes, der Wegfall der Arbeitsplätze – vor allem in der Tourismusbranche – könnte viele Menschen in die Notlage bringen, ihr Leben und das ihrer Familien durch das Jagen der jetzt ungeschützten Tiere zu sichern. Für die Ärmsten der Armen stellt sich nicht die ethische Frage nach dem Erhalt einer vom Aussterben bedrohten Tierart, sondern einzig die Frage nach dem eigenen Überleben.
Außerdem befürchten Virologen, dass sich die Berggorillas, die eine etwa 98 prozentige Übereinstimmung mit unserem Genmaterial haben, mit dem Corona-Virus infizieren könnten. Das könnte das Ende ihrer Art bedeuten. Vielleicht wusste der melancholische Silberrücken ja tatsächlich mehr als ich.
