Der zweite von vier Beiträgen zum Lake District in Nordengland.
Wir ließen uns erklären, dass wir die Karte in jeder Hinsicht falsch gelesen hatten, orientierten uns neu und zogen weiter, durch den Fluss zurück zur anderen Talseite. Die Füße verschwanden bis zu den Knöcheln im pitschnassen Gras. Der Regen verstärkte sich. Das Wasser flutete vom Himmel herab, prasselte auf unsere Ponchos nieder, peitschte in unsere zu Fratzen verzerrten Gesichter und machte aus dem Erdreich eine klebrige Schlammbrühe, während wir uns gegen den Wind stemmten und uns Schritt um Schritt vorwärts kämpften. Die Berge erhoben sich beinahe ins Unendliche. Gezackte Geröllnarben und hellbraune Bahnen durchzogen dort, wo das Wasser in das schmale Tal schoss und dem Liza zusätzliche Kraft verlieh, das Gestein wie Tränen. Bei gutem Wetter musste es hier wunderschön sein. Auch heute war die Landschaft auf eine besondere Weise beeindruckend, aber die Herausforderung, den Bedingungen zu trotzen, wurde größer und größer und drängte jede Wertschätzung zurück. Dabei hatten wir mitnichten außergewöhnliches Pech. Regen war hier der Normalzustand; schönes Wetter zu erwischen bedeutete pures Glück. Wir hatten also keinen Grund, uns bei den Regengöttern zu beschweren. Ein paar Kilometer voraus lag der kleine See Sprinkling Tarn, der mit durchschnittlich 4,7 Metern Regen pro Jahr niederschlagreichste Ort Englands. Im nassesten Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen, 1954, waren es gar 6,5 Meter und am nassesten Tag, am 20. November 2009, ganze 315 Millimeter. Dazu kommt der fortwährende Wind. An bis zu 100 Tagen im Jahr treten auf den Berggipfeln Starkwinde auf. Die mittleren Temperaturen in den Tälern liegen im Januar bei nur rund drei Grad und erreichen im Juli gerade einmal 15 Grad. Und das ist das Klima, für das Wordsworth sich in seinem Reiseführer über die Gegend dermaßen begeistert hat!
Wenn ich einen solchen Reiseführer mit dem obersten Ziel schreiben würde, den Lake District anzupreisen, würde ich das Klima unauffällig unter den Tisch fallen lassen, statt mich darüber auszulassen, wie wunderbar grauenvoll das Wetter hier ist. Auf der anderen Seite verstand ich ihn: Das Wetter war Teil der Faszination, Teil des Gedankens, in der Natur zu sein, sich ihr mit allen Widrigkeiten auszusetzen. Mit der Hand die raue Rinde einer alten Eiche nachzuzeichnen, durch hohe Gräser zu streifen und – ja – auch dem Wind zu trotzen. Es gehörte alles dazu.
So. Das ist alles, was ich an Positivem über das Wetter aus meinen Fingern herauswringen kann.
Durch das Herz Englands
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Durch das Herz Englands – Schritt für Schritt von Küste zu Küste“ von Erik Lorenz.
- Wiesenburg Verlag
- 388 Seiten, gebunden
- 26,90,-
- Auch als E-Book erhältlich

Unmittelbar vor uns erwuchs eine große, abgerundete Wand aus dem Boden. Kleine Steinhaufen, die Wanderfreunde aufgeschüttet hatten und die anstelle von Schildern einen schmalen Pfad markierten, verrieten uns, dass wir hier bergauf mussten. Über seifenglatte Steine kletterten wir durch einen Bach und begannen den Aufstieg. Aus allen Richtungen rauschten weitere weiß schäumende Bäche die Berge herunter und schafften Wassermassen fort, so als würde weiße Lava sich aus einem Vulkan ergießen, als würde die Natur – die Welt selbst – überlaufen. Wetter und Landschaft verbanden sich: Hier gab es keine Bäume mehr, nur durchweichtes Gras und nasses Geröll und Wolken, die über das Geröll krochen und alles einhüllten – graue Schwaden auf grauem Fels. Ich war gefangen in einer ehrfurchteinflößenden Rauheit, in der ich mich geradezu grotesk machtlos fühlte. An Pausen war nicht mehr zu denken. Wir konnten nirgends die Rucksäcke ablegen, ohne sie zu ertränken, konnten uns nirgendwo hinsetzen, ohne sofort erbärmlich zu frieren.
Wir folgten dem Pfad hinauf – hinauf, hinauf. Und ich, der ich schon unten am Ende meiner Kräfte gewesen war, musste weiter die unförmige Masse, die mein Körper war, den Hang hinauf hieven, über rohe, steinerne Stufen, in noch dichtere Wolken hinein. Ich klopfte mir ermutigend auf die Oberschenkel, wie man einem Pferd den Hals tätschelt. Der Rucksack zerrte unbarmherzig an meinen Schultern, mein Rücken fühlte sich an, als würde er jeden Moment brechen. Waren das da hinten einige Socken und T-Shirts oder trug ich einen ganzen Kleiderschrank über Stock und Stein? Ich rang nach Luft, in einem schier unmöglich schnellen Wechsel ein- und ausatmend. Mein Herz zuckte in meiner Brust wie ein im Netz zappelnder Wels. Bei jedem Schritt fiel mein bleierner Körper, den ich eben erst um wenige Zentimeter in die Höhe gestemmt hatte, auf die Erde zurück als wolle er dort Wurzeln schlagen. Und das hier war erst der Anfang. Insgesamt würden wir auf dieser Wanderung mehr Höhenmeter hinaufwandern als bei einer Besteigung des Mount Everest.
Es machte sich bemerkbar, dass sich meine Vorbereitung auf diese Tour darauf beschränkt hatte, meine Joggingfrequenz von einmal auf zweimal wöchentlich zu erhöhen – für gerademal drei Wochen. Wahrlich kein Stählen meines Körpers, der ansonsten den Großteil der Zeit schlaff an einem Schreibtisch hing. Meinen Oberschenkeln ging es verhältnismäßig gut, aber die Schmerzen in Schultern und Rücken, denen ich durch gezieltes Muskeltraining hätte vorbeugen sollen, kamen nicht unerwartet. Weitaus mehr beschäftigte mich allerdings die Furcht vor etwas anderem: dem Albtraum eines jeden Langstreckenwanderers. Ich rede nicht von Tagen des Schnees, des windgepeitschten Regens oder anderen widrigen Witterungsbedingungen, auch nicht von Angriffen durch sagenumwobene Vampirhunde und sonstige Biester, schon gar nicht von Überfällen durch raffgieriges Gesindel. Nein, was mir Sorgen bereitete und mir die Spucke im Hals steckenbleiben ließ, war: die gemeine Blasenbildung.
Ein kleines Scheuern, ein kaum zu spürendes Reiben an einer feucht gewordenen Stelle im Innenspann, an der Ferse oder an der großen Zehe, und eine ansonsten bezwingbare Herausforderung würde zu einer unendlichen Aneinanderreihung von kleinen Explosionen der Pein werden. Schließlich würde ein Aufgeben unumgänglich sein. Beim Jogging bekam ich ständig Blasen, egal welche Schuhe ich trug, aber nach einer Stunde hörte ich schließlich zu laufen auf und die Füße konnten beginnen sich zu regenerieren. Hier war es anders.
Ich quälte mich weiter, während Papa vorauslief, auf mich wartete, schnatternd um mich herumtänzelte und wieder losrannte. Mit aufeinander gepressten Zähnen schaute ich ihm nach. Ich berichtete bereits, dass es besonders deshalb eine große Freude für mich war, den Weg gemeinsam mit meinem Vater zu gehen, weil wir eine gewisse Abenteuerlust teilten, die er mir einst vorgelebt und mir beim Zelten, Wandern, Bergsteigen und Kajakfahren eingeflößt hatte. Aber es gab noch einen anderen Grund, aus dem ich mich auf die Zweisamkeit freute.
In mir wohnte die Hoffnung, ihn am Boden liegen zu sehen.
Ja, ich wollte, dass er fertig war, dass er seufzend und geifernd versuchte, eine Sitz- oder Liegeposition zu finden, in der ihn die Knochen nicht zu sehr schmerzten. Dann würde ich mich hämisch grinsend über ihn beugen und – mich um die rauchige, trockene Stimme eines erfahrenen Waldläufers mit wettergegerbten Zügen bemühend – feststellen: »Komm schon. Indianer kennen keinen Schmerz.«
Wie oft hatte ich diesen inhaltlich sinnlosen und in Anbetracht der Gleichgültigkeit, die sich darin ausdrückte, schlichtweg grausamen Satz zu hören bekommen! Als ich im Grundschulalter an einem viel zu kleinen Griff an einer viel zu hohen Kletterwand hing, mein Vater in aller Ruhe Fotos machte, während ich schrie: »Ich kann mich nicht mehr halten, seil mich ab!« – »Moment noch.« – »Ich kann nicht mehr. Es tut weh!« … ja, dann hieß es: »Indianer kennen keinen Schmerz!« Als ich, nicht viel älter, am Ende eines beinahe 30 Kilometer langen Gewaltmarsches kraftlos meine Füße über den Asphalt schleifte, darum bemüht, nicht in Tränen auszubrechen oder wie ein Haufen leerer Kleider über der Straße zusammenzubrechen, und als mein Vater sagte »Heb die Füße – das ist nicht gut für die Schuhe!«, und als ich entgegnete: »Papa – ich kann nicht mehr« … ja, auch da war die unnachgiebige, von einem amüsierten Lächeln begleitete Antwort: »Reiß dich zusammen – Indianer kennen keinen Schmerz!«
Ja, mein Vater hatte diesen Spruch gemocht, seit ich denken konnte, und lange Zeit hatte ich mich nach der Bemerkung tatsächlich geschämt, weiterzujammern. Doch das war nun vorbei. Ich hatte längst die gemeine Methode begriffen, mit der er den Quälgeist in mir ein ums andere Mal zum Schweigen gebracht hatte.
Umso schöner war die Vorstellung, es ihm zurückgeben zu können, wie lieblich-süß der bloße Gedanke! Doch es war unwahrscheinlich, dass mir diese Genugtuung vergönnt sein würde. Ich, 24, stand in der Blüte meines Lebens. Dennoch machte ich mir keine Illusionen, dass ich es kräfte- und ausdauermäßig jemals mit meinem 55-jährigen Vater würde aufnehmen können. Realistisch betrachtet war klar: Wenn einer von uns am Boden liegen würde, dann würde ich das sein.
Ich konzentrierte meine schwindenden Kräfte darauf, die Stufen um eine Felsnase aufzusteigen, hinter der mein Vater auf mich wartete. »Kommst du?«, rief er, sobald er mich sah, wandte sich ab und ging weiter.
Haltung bewahren, sprach ich in Gedanken zu mir selbst. Haltung bewahren. Es ist erst der zweite Tag. Wird schon noch.
Als er das nächste Mal wartete, dass ich aufschloss, brachte ich mühsam hervor: »Nicht – so – schnell!«
Er hob die Brauen. »Machst du schon schlapp?«
»Ich … Schnappatmung! Beine … Wackelpudding!«
»Hab dich nicht so! Was soll ich denn sagen – ich bin viel schwerer als du!«
Ich stöhnte innerlich. Dieses Argument hatte er schon gebracht, als ich gerade fünf Jahre alt war und auf unsicheren Beinen hinter ihm her durch die Wälder stakste. »Komm schon! Ich bin viel schwerer als du!«
Natürlich war er schwerer als ich. Er war älter, seine Knochen waren wuchtiger, ebenso seine Muskeln, seine riesigen Hände. Ja, er war schwerer und ich würde ihn wohl nie einholen, aber dafür sahen seine Beine aus wie kleine Baumstämme und nicht – wie meine – wie krumm gewachsene, zitternde Zweige, die bei jeder Belastung durchzubrechen drohten.
»Mag sein, dass du schwerer bist«, erwiderte ich halbherzig. »Aber umso stärker macht sich für mich das zusätzliche Gewicht des Rucksacks bemerkbar. Ohne ihn wäre das hier ein Spaziergang.«
»Na komm, weiter!«
Alles klar. Damit war die Diskussion wohl beendet. Weiter.
Der Weg schraubte sich weiter in die Höhe. Der Wind blies von hinten und wehte uns mehrfach die flatternden Ponchos über die Rücken in die Gesichter. Wir taumelten, tasteten nach einem Stück Fels, an dem wir uns festhalten konnten, da das Gelände so steil war, nahmen beide Stöcke in eine Hand und zogen den Poncho des Anderen wieder herunter. Hier – endlich! – begann auch Papa vor mir zu fluchen.
Nach dem Felshang glaubte ich oben zu sein, aber es ging weiter über schroffen Schotter und steile Wiesen, die mit großen Steinen durchsetzt waren. Rechter Hand schossen Wolkenschwaden wie eine graue Wand die Seite des Berges hinauf und über uns hinweg. Wie lange konnte es noch empor gehen? Welche Art von unerreichbarem Gipfel hatte sich Herr Wainwright für uns überlegt? Ich erinnerte mich, dass ich vorhin, als das Geläuf noch überwiegend eben war, in meinem naiven Optimismus geglaubt hatte, in einen gewissen Trott gefunden zu haben. Diese Hoffnung kam mir jetzt reichlich lächerlich vor. Nichts mit Trott, nichts mit gleichmäßiger Schrittabfolge und gleichmäßigem Klackern der Stöcke. Überhaupt nichts war gleichmäßig. Es war ein haltloses, unkontrolliertes Straucheln. Zum Teil achtete ich nicht mehr auf den Weg, ich stolperte über Stufen und Steine vor mich hin. Ob ich Blasen bekam, kümmerte mich nicht mehr. Was wichtig und unwichtig war, hatte sich geändert – ich wollte nur noch durchhalten. Ich wollte es schaffen, weitermachen, auch wenn ich glaubte, es ginge nicht mehr. Ich lernte: Wenn etwas sein muss, geht viel mehr, als man denkt. Glaubt man, die eigene Grenze sei erreicht, geht es immer noch ein Stück weiter, wenn Notwendigkeit und Wille es fordern. Solche Erkenntnisse durch eigene Erfahrungen, die Auseinandersetzung mit sich wandelnden, elementaren Sorgen, die an die Stelle überschätzter, scheinbarer Wichtigkeiten des Alltags treten, waren ein Grund, aus dem ich hierhergekommen war. Wenn auch nicht heute, würde ich mich über die kleine Lektion Leben sicher irgendwann freuen können. Irgendwann würde ich mich an das Raue, Ungezähmte erinnern, das mich herausgefordert hatte, an den Stein, das Geröll, den Berg, das klare, plätschernde Wasser, die durchtränkten Wiesen, die Kälte und das Zerren an den Schultern … Aber jetzt ging es darum, voranzukommen.



Hier oben, auf dem Great Gable, bei diesem Wind und Regen, konnten wir kein Zelt aufbauen. Die Zeit schritt voran: Mittlerweile war es achtzehn Uhr. Wir wussten nicht einmal, ob die nächste Unterkunft, eine Jugendherberge, noch freie Zimmer haben würde. Vorhin hatte ich eine erfrischende Cola herbeigesehnt, mittlerweile war mir eher nach einem warmen Kaffee oder Tee zumute. Der Regen blieb unser Begleiter, in seltenen Ruhephasen als nahes Murmeln, zumeist aber als kräftiges Platschen großer Tropfen, die auf Steinen aufplatzten, auf dem Kunststoff der Ponchos knisterten und einen ständigen, monotonen Klangbrei bildeten. Normalerweise liebe ich das melodische Geräusch niedergehenden Regens. Heute nicht.
Auch die kleinen Steinhaufen begleiteten uns weiter. Alle paar hundert Meter versicherten sie uns, dass wir uns noch nicht verirrt hatten. Als Papa kurz stehenblieb, um seine Rucksackriemen neu einzustellen, überlegte ich nicht lange: An einem Felsabsatz ließ ich mich zurücksinken. Den Rucksack legte ich auf dem Absatz und meinen Hintern in einer Pfütze ab. Kurz genoss ich die Entspannung für die Beine, dann fror ich. Die Luft hatte dreizehn oder vierzehn Grad, aber durch die Witterung fühlte sie sich kälter an. Wir verweilten nicht lange und nach ein paar Minuten war mir wieder erträglich warm. Ein See, Blackbeck Tarn, tauchte auf, zu dessen Rechten ein paar Bagger verlassen vor einem Steinbruch standen, dem Hopper Quarry. Auch eine Schotterstraße machte ich bald aus, doch wir bogen davor auf eine pfeilgerade Schiefertrasse ab, der ehemaligen Spur für die alte Steinbruch-Bahn aus dem 19. Jahrhundert, die Schieferbrocken und -schotter hinab zu den Werkstätten und der Zugangsstraße gebracht hatte. Auf der Trasse ging es abwärts, nicht mehr über Erde, rohe Stufen oder nasses Gras, sondern über glitschige Schieferplatten. »Hier läuft es sich besser – die Stöcke sinken nicht mehr im Boden ein!«, frohlockte Papa. Ich konnte dazu nichts sagen; für mich lief sich heute gar nichts mehr gut. Ein gelegentliches, gemurmeltes »Unfassbar …« – mehr brachte ich nicht hervor. So etwas wie heute wollte ich auf der Wanderung nicht noch einmal durchleben müssen. Ich versuchte mich mit dem Gedanken anzuspornen, dass ich desto früher ankommen würde, je schneller ich lief, aber es ging nicht schneller. Außerdem machte mir zu schaffen, dass ich nicht wusste, was ankommen bedeutete, was mich erwartete.
Die Trasse endete auf einer ebenen Fläche. Endlich: das Besucherzentrum der Honister Schiefermine! Kein Anzeichen für Betriebsamkeit, keine Spur von Leben, nur ein paar Schieferhäuser, Werkstätten und orangefarbene Bagger, von denen das Wasser tropfte und zwischen denen wir uns unseren Weg bahnten. Das Besucherzentrum hatte wie alles andere auch bereits geschlossen. Rohe Schieferbrocken, vollendete Grabsteine, beschriebene Schilder aus geschliffenen Schieferplatten und Bänke lagen und standen überall herum. Grauer Schieferschotter bedeckte die Erde, kleine Kiesel und Platten verschiedenster Größe wechselten sich ab. Eine kleine Transportbahn, die früher über die Trasse den Schutt vom Steinbruch herab geschafft hatte, kauerte sich mit ein paar Anhängern im Regen zusammen. Rund herum schäumten anschwellende Bäche über die nackten Hänge hinab.
Ich nahm all das nur unbewusst wahr: Mein Blick heftete sich auf das unscheinbare Jugendherbergsgebäude am jenseitigen Ende des Geländes. Obgleich es nur noch ein paar Dutzend Meter weit weg war, ging ich an jedem großen Stein, den ich passierte, etwas langsamer und kämpfte gegen den Drang an, mich nochmal kurz hinzusetzen, nur für einen Moment. Doch der Wunsch, aus dem Regen herauszukommen und das endgültige Ziel zu erreichen, war größer.
Im Vorraum zogen wir die Ponchos aus, setzten die Rucksäcke ab und entblößten Körper, die entfernt an ertränkte Vogelscheuchen erinnerten. Von hier aus gelangten wir durch eine zweite Tür in den Aufenthaltsraum mit vier Tischen, zwei roten Couches, einem Bücherschrank und einer geschwungenen Holztheke. Die Wände sahen aus wie weiß und hellgrün gestrichene Hartfaserplatten. Der Raum war nicht besonders schick oder heimelig, sondern vor allem funktional. Ich taumelte zur Theke und stützte mich darauf ab. Ich war fertig.
Der Herbergsvater, der dahinter auf einem Stuhl saß, begrüßte uns. Zunächst war er still, fast mundfaul, aber freundlich. Mit seinem lichten, etwas zu langen Haar und seinem Schlabberpulli machte er den Eindruck, sich mit dem Leben hier oben langfristig arrangiert zu haben. »Ich werde hier wohl bis zur Rente arbeiten«, erzählte er dann auch bald mit seiner näselnden Stimme und schien darüber weder außerordentlich betrübt noch entzückt – aber zufrieden. Augenscheinlich war er weniger auf eine Vollauslastung erpicht als auf einen gemächlichen Arbeitsalltag. Sei es ihm gegönnt.
»Mein bestes Weihnachten war, als ich hier vor ein paar Jahren eingeschneit bin«, sagte er kurz darauf. »Normalerweise verschwinde ich zu dieser Jahreszeit für zwei oder drei Monate und reise. Nicht so in jenem Jahr. Aber wegen des Schnees kamen keine Gäste durch, so dass ich in aller Ruhe die australische Rugby-Liga gucken konnte. Das war herrlich!«
Ich fragte nach freien Betten. Zur Auswahl standen Schlafsaalbetten für 32 Pfund pro Person und ein Zimmer nur für uns für je 43 Pfund.
»Wir nehmen Letzteres«, beschloss Papa ohne zu zögern zu meiner grenzenlosen Überraschung. Er sparte sonst, wo er konnte, gerade im Urlaub und gerade bei Unterkünften. Auf der bisherigen Wanderung war er bereits mehrfach sehnsuchtsvoll vor undichten Vordächern von Scheunen und Ställen stehengeblieben und hatte geseufzt: »Dort ließe es sich gut schlafen – und vor allem kostenlos!«
Und jetzt das: Offenbar hatte er einen inneren Punkt überschritten, von dem ich nicht wusste, dass er bei ihm existierte, einen Punkt, an dem er Komfort dem Sparen vorzog. Papa legte die Scheine auf den Tresen. Der Herbergsvater nahm sie und verzog das Gesicht.
»Vor ein paar Tagen hat es in meinem Rücken geknackt«, erklärte er. »Seither kann ich mich nur noch unter Schmerzen bewegen. So etwas erinnert einen daran, Beweglichkeit nicht als selbstverständlich zu erachten.«
Wem sagte er das? Er packte das Geld weg, suchte den Schlüssel hervor, machte Notizen – und rollte bei alledem auf seinem Schreibtischstuhl hinter der langen Theke hin und her. Ich folgte ihm erst nach links, wo ich unsere Namen und Adressen in ein Formular eintrug, dann wieder nach rechts, wo ein Menü mit einer kleinen Auswahl an Gerichten für das Abendessen an der Wand hing. Dabei lehnte ich mit dem Oberkörper auf der Theke und schob mich auf den Ellenbogen von einer Seite zur anderen, so als hätte ich keine Beine. Ich konnte nicht mehr stehen.
Die Einrichtung unseres Zimmers bestand aus zwei Doppelstockbetten, einem Waschbecken mit Spiegel und einem Stuhl. Für einen Tisch oder Schrank fehlte der Platz. Ich bezog mein Bett, stellte mich unter eine dampfende, druckvolle und wärmende Dusche und brachte die vielen nassen Sachen in einen speziellen Trockenraum. Papa tat das Gleiche. Dann setzten wir uns an einen Tisch im Gemeinschaftszimmer und aßen. Wieder wusste ich nicht, wie ich sitzen sollte und versuchte, mit den Füßen nicht den Boden zu berühren. Ich hatte nicht geglaubt, dass Füße auf so vielfältige Weise – gleichzeitig an Zehen, Ferse, Ballen, Sohle, Spann, … – schmerzen können. Ein Viertel der über 200 Knochen des menschlichen Körpers befindet sich in den Füßen: Sie alle ächzten. Als ich später zur Toilette am anderen Ende eines langen Ganges lief, war die Muskelverkrampfung so weit fortgeschritten, dass ich fast gar nicht mehr gehen konnte. Um die schmerzenden Ballen zu entlasten trat ich nur mit der Außenkante der Füße auf. Breitbeinig wie ein Matrose auf Landgang pendelte ich hin und her, stieß mit den Schultern erst an die linke Wand und dann an eine Tür auf der rechten Seite des Ganges, obwohl ich nur geradeaus laufen musste. Die Bewohner des Zimmers hielten meinen Anprall für ein Klopfen und öffneten. Ich entschuldigte mich und wollte weitergehen, doch dann stutzte ich. Die Gesichter kamen mir bekannt vor.
»Kein Problem«, sagte einer der beiden Männer, gefolgt von einem »Ah!«. Er grübelte, brachte ein weiteres »Ah!« hervor und sagte schließlich: »Der Tunnel!«
»Ja, genau!«
Es waren die Brüder aus Norwich und Sunset, die den Coast to Coast Walk in drei Jahren absolvieren wollten. Sie waren eben erst angekommen. »Wir waren langsamer als gedacht und sind oben in den Bergen vom Weg abgekommen. Die Wolken waren so dicht, dass wir die Steinhaufen nicht mehr finden konnten.«
Insgeheim stellte ich neidisch fest, dass die beiden absolut taufrisch aussahen. Wie aus dem Ei gepellt. Nette Strickpullover, unter denen gebügelte Hemdkragen hervorguckten, sauber gescheitelte Haare. Trotz der Umwege schienen sie mit ihrem Tagwerk und sich selbst zufrieden zu sein, während ich in gebückter Haltung vor ihnen stand, mich darauf konzentrierte nicht umzukippen und schließlich stillos davonwatschelte.
© Fotos: Erik Lorenz