Durch Englands Lake District – Teil 1: Wordsworth & Wainwright

Lake District
© Erik Lorenz

Der erste von vier Beiträgen zum Lake District in Nordengland.

Wir betraten den Uferpfad entlang des Ennerdale Waters, dem westlichsten und damit ersten von zahllosen Seen des Lake District Nationalparks. Dieser Nationalpark in Cumbria, vollgestopft mit Seen und Bergen, ist zweifellos eine der schönsten Gegenden Englands und würde ein echtes Highlight unserer Wanderung von Küste zu Küste sein. Seine raue Landschaft lässt das Herz eines jeden Naturfreundes unweigerlich schneller schlagen und inspirierte Anfang des 19. Jahrhunderts eine Gruppe englischer Lyriker, die Lake Poets, zu hingebungsvollen Passagen über seine Schönheit, allen voran ein Dichter, bei dem schon der Name wie Poesie klingt: William Wordsworth. Er wurde 1770 in Cumbria geboren und verbrachte einen großen Teil seines Lebens hier. Er schrieb viele Gedichte, in denen er sich an der romantischen Anmut der hiesigen Natur ergötzte, und veröffentlichte 1820 einen frühen, mit prosaischen Gedichten angereicherten Reiseführer zum Lake District. Dieser verkaufte sich damals besser als seine Lyrik, so erfolgreich gar, dass ein Geistlicher Wordsworth fragte, ob er denn auch irgendetwas außer jenem Führer geschrieben habe.

Durch das Herz Englands

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Durch das Herz Englands – Schritt für Schritt von Küste zu Küste“ von Erik Lorenz.

  • Wiesenburg Verlag
  • 388 Seiten, gebunden
  • 26,90,-
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Lake District England

Selbst für das wechselhafte, oft von Wolken, Regen und Sturmwinden geprägte Wetter fand Wordsworth nur gute Worte: Die rasch schwebenden Wolken veranlassten viele Einwohner, so Wordsworth, sich selbst dazu zu beglückwünschen, in einem Land des Nebels, der Wolken und des Sturms zu wohnen. Die Leere des tiefblauen italienischen Himmels sei im Vergleich ein lebloses und trauriges Schauspiel. Wahrheit oder Schönfärberei? Begriffe wie Eisen, Kohle, Industrie, Minen und Kupfer, durchaus elementare Bestandteile des Districts in seiner Gänze, tauchten im Register seines Führers jedenfalls nicht auf. Aber wer hat das Recht auf ein wenig Idealisierung hinsichtlich der Natur seiner Heimat, wenn nicht einer der größten Dichter der Romantik?

Wordsworth war einer der Entdecker des Wanderns als eine Form der Selbstverwirklichung. Für ihn war Wandern keine Fortbewegung, die dem reinen Zweck diente, von einem Ort zum anderen zu gelangen, sondern es ermöglichte die Vereinigung des Körpers mit der Natur durch die Betrachtung der Landschaft. Er nutzte seinen Laufrhythmus, um Versmelodien zu finden, seine Augen, Ohren und Nase, um die Kraft der Worte aufzunehmen, die sich in seinem Kopf formten und die er gehend zu Papier brachte. Seine Gedichte trügen den »regelmäßigen, unaufgeregten, eintönigen Rhythmus des Gehens in sich«, meint der französische Philosoph Frédéric Gros. »Wie das Meeresrauschen lullen sie ein, ohne zu langweilen.«

Wordsworth kämpfte sich durch die Alpen, lief durch Italien, erkundete Frankreich, erforschte England. In seiner Heimat, dem Lake District, Quell seiner reichsten Inspirationen, verfasste er 1804 seine berühmteste Arbeit, das Gedicht I Wandered Lonely as a Cloud, dessen erster Vers lautet:

I wandered lonely as a cloud
That floats on high o’er vales and hills,
When all at once I saw a crowd,
A host of golden daffodils;
Beside the lake, beneath the trees,
Fluttering and dancing in the breeze.

A.G. Bradley beschrieb Ennerdale im frühen 20. Jahrhundert in Highways and Byways in the Lake District als »ein wildes, wannenartiges Tal, unberührt von der Zivilisation, und durchfädelt von den Windungen eines silbernen Bachs«.

Ich schaute mich um und nahm die Landschaft in mich auf, die Wordsworth und viele andere so begeistert hatte. Über eine kleine Brücke schritten mein Vater und ich über den Bach Ehen, der hier als Abfluss von Ennerdale Water entstand, und gelangten zur südlichen Seite des Sees. Der Blick von dieser Seite war fantastisch. Gegenüber, etwas weiter nördlich als wir fälschlicherweise gegangen waren, leuchteten zwei weiße Häuser vor grünbewachsenen, zum Teil mit Feldern bedeckten Hügeln, die nach hinten hin immer steiler wurden und rasch zu Bergen anwuchsen. Der Berg rechts hinter den Häusern war im unteren Drittel mit Grünzeug bewachsen. Darüber zogen sich hellgraue, steile Schotterpisten, durchsetzt von dunkelgrünen buschigen Inseln, ihrerseits überragt von Dunkelgrau. Dort thronte der Fels, dessen Verwitterung das Schotterfeld speiste. Rechts daneben folgte eine Reihe kleinerer und größerer Berge. Mancher Gipfel verbarg sich in den dichten, niedrighängenden Wolken. Der See selbst war mit seiner Ausdehnung von vier Kilometern einer der kleinsten Seen der Gegend, aber der windungsreiche, schmale Uferpfad, dem wir folgten, war erheblich länger. Das Wasser zu unserer Linken war ruhig. Kein Wind regte sich.

Lake District

Eine Wanderung durch den Lake District kann nicht geschildert werden ohne die Erwähnung eines weiteren denkwürdigen Mannes, dessen Streifzüge ihn über Dekaden durch England und darüber hinaus führten, dessen Herz aber immer in besonderem Maße am Lake District hing: Alfred Wainwright, am 17. Januar 1907 geboren, 84 Jahre und drei Tage später gestorben. In sieben Pictorial Guides to the Lakeland Fells – also: Bildhaften Führern zu den Bergen der Seenlandschaften – beschreibt er die Routen zu 214 Bergen und Hügeln, die im Norden Englands und in Teilen Schottlands nicht als Mountains oder Hills, sondern als Fells bezeichnet werden. Dementsprechend nannte Wainwright sich selbst einen Fellwalker oder Fellwanderer. 1952 verfasste der damals Fünfundvierzigjährige den ersten Band, The Eastern Fells, allein zur persönlichen Freude und zur späteren Erinnerung, wenn seine alten Beine ihn nicht mehr zu den Fells tragen würden und er sich auf das Zurückdenken beschränken müsste. Nachdem er seine Aufzeichnungen fertiggestellt hatte, erkannte er jedoch, dass auch andere Seelen an ihnen interessiert sein könnten. Er beschloss – ermutigt durch enge Freunde, die von seinen Schriften und Zeichnungen begeistert waren – sie zu teilen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und arbeitete in einem detaillierten Plan aus, welcher Anstrengung es bedurfte, die restlichen Gipfel des Lakelands mit ihren Routen, Aussichten und Charakteristiken in weiteren Bänden zu beschreiben. Eingehend studierte er Karten des damaligen Cumberlands und Westmorlands und teilte Gebiete ein, auf die er sich in den verschiedenen Bänden konzentrieren wollte. Er begriff rasch, dass es ein riesiges Unterfangen war, das ihm vorschwebte, ein Unterfangen, das ihn für sein restliches Arbeitsleben begleiten und den Großteil seiner Freizeit beanspruchen würde. Hindernisse wie Krankheiten, familiäre Probleme, Arbeitslosigkeit oder ein Schwund an Interesse berücksichtigte er in seinen Planungen nicht. Er ging davon aus, fortan mit unermüdlichem Eifer an diesem Projekt zu arbeiten, im Sommer wandernd, im Winter anhand von Fotos und Notizen zeichnend und schreibend. Sein Ergebnis: Er würde 13 Jahre benötigen.

Zwei Wochen, bevor die 13 Jahre abgelaufen waren, vollendete er mit The Western Fells den letzten Band der Reihe.

Wainwright verfasste die umfangreichen Notizen, die er während seiner Streifzüge anfertigte, komplett handschriftlich und illustrierte sie mit zahllosen Federzeichnungen und Skizzen. Seine Bücher – und das ist ein wichtiger Teil ihres besonderen Charmes und der fortbestehenden Romantik – sind Reproduktionen seiner handschriftlichen Aufzeichnungen, nicht im Sinne einer Transkription mit der Schreibmaschine, sondern im wahren Sinne des Wortes. Lieferte Wainwright ein neues Manuskript ab, hatte sein dankbarer Verleger nichts zu tun als die Seiten ein paar Millionen mal zu kopieren und zu einem Buch zu binden. Dabei war Wainwright nicht weniger als ein Perfektionist: Jede seiner Seiten verfasste er in genauem Blocksatz, bei den ersten hundert Seiten des ersten Bandes nur linksbündig. Nach acht Monaten Sisyphusarbeit beschloss er, dies sei nicht gut genug, vernichtete die gesamte bisherige Arbeit und begann von Neuem. Dieses Mal schlossen die Zeilen links- und rechtsbündig ab, aber – und spätestens hier gibt er sich als der rigorose Genauigkeitsfanatiker zu erkennen, der er war – ohne dass sich auch nur an einem Zeilenende eine Worttrennung finden würde. Keine Bindestriche. Eine befriedigende Antwort auf das Warum gibt es nicht, sind Bindestriche an Zeilenenden doch in Büchern und Zeitungen üblich.

Wainwright wollte es besser als die gedruckten Medien machen. Er musste also schon zu Beginn der Zeile einschätzen, wie lang die Worte, die er erdacht hatte, sein würden, wie groß die Lücken zwischen ihnen sein mussten. Nötigenfalls passte er die Sprache der Form an. Unterschiedliche Schriftgrößen und kursive und fette Hervorhebungen weisen ferner auf die Bedeutung bestimmter Sachverhalte hin, schaffen Abwechslung und vermitteln das Gefühl, die Bücher seien vielleicht doch am Computer entstanden und basierten auf einer handschriftlich gestalteten Schriftart. Viele Leser vermuteten genau das, aber dem ist mitnichten so. Wainwright bemühte sich bewusst um eine Schrift, die ähnlich lesbar wie die einer Schreibmaschine war – daher auch der Blocksatz. Um den Abwechslungsreichtum zu erhöhen, streute er seine Zeichnungen in immer neuer Weise ein. Keine Seite gleicht der anderen; beim Umblättern sollte der Leser nicht wissen, welcher Anblick ihn erwartet, sondern von der Neugier vorwärts durch die Bücher getrieben werden. Dabei sollte aber keine Hast entstehen. Um den Leser zu ermutigen, auf den Seiten zu verweilen und Karten und Zeichnungen in gebührender Ruhe zu verarbeiten, schloss jede Beschreibung, jeder Gedankengang am Ende der Seite mit einem Punkt ab. Auch hier: keine Bindestriche, keine Sätze, die von einer zur nächsten Seite führen. Ferner finden sich im Einband der meisten Wainwright-Führer ausführliche Legenden, mit denen die akkuraten, detailverliebten Karten und Wegskizzen Wainwrights lesbar werden.

Ein paar hundert Leute haben mittlerweile ihr Ziel erreicht, alle 214 von Wainwright beschriebenen Gipfel zu besteigen. Die sieben Bände gelten heute als Standardwerke und Klassiker unter den Führern zu den Fells im Lake District und sind dabei so viel mehr als bloße Führer: Es sind kleine Kunstbände, so kompakt, dass sie beinahe in eine Hemdtasche passen, mit ihren feinen Zeichnungen, akribischen Beschreibungen und geistreichen Überlegungen. Sie haben die Bekanntheit und Beliebtheit der beschriebenen Landschaften nachhaltig erhöht und ein bleibendes Bewusstsein für sie geschaffen. Den Anfang für die touristische Erschließung des Lakelands bildeten sie aber nicht: Diese lag lange zurück. Bereits um 1770 erschienen die ersten Berichte und Führer über das Lakeland, verfasst von abenteuerlustigen Entdeckern, die von unzugänglichen Tälern, unüberwindbaren Bergen und furchteinflößenden Aussichten berichteten. Diesen Wagemutigen folgten bald die ersten Touristen, die feststellten, dass die Landschaften mitnichten so furchteinflößend und lebensfeindlich waren, wie die von ihrer eigenen Tapferkeit ergriffenen Abenteurer ihnen weißgemacht hatten. Der Dichter Thomas Gray veröffentlichte seinen Bericht über eine Reise ins Lakeland 1775 und beschrieb eine ganz andere, eine erfüllende Erfahrung. Die Besucherzahlen stiegen und die Einheimischen maulten angesichts der Veränderungen, die sie bewirkten. Der größte Nörgler war Wordsworth, der mit seinem erfolgreichen Führer doch einer der wichtigsten Förderer des Lakelands als Urlaubsziel war. Darin hatte er, der wie erwähnt die Alpen und italienischen Seen kennengelernt hatte, das Lakeland als allen anderen Landschaften überlegen beschrieben. In seinen Gedichten ergriff er Partei für die unterprivilegierten und ungebildeten Arbeiter. Aber als diese sich, von seinen Schilderungen entzückt, in seine Heimat aufmachten, um sie mit eigenen Augen und Füßen zu entdecken, ergriff ihn blanke Panik. Die Armen würden mental und moralisch nicht auf die gleiche Weise von der Landschaft profitieren können wie seinesgleichen und sie stattdessen für die gebildete Klasse ruinieren, der natürliche Schönheit Genuss der reinsten Art verschaffe. Er veröffentlichte Essays und schrieb Briefe an öffentliche Stellen, etwa um den Bau einer Eisenbahnstrecke bis kurz vor seine Türschwelle zu verhindern. Trotzdem eröffneten Unterkünfte und Geschäfte, und über einstmals unberührte Hänge bewegten sich kleine Punkte den Gipfeln entgegen, auf der Suche nach pittoresken Aussichten, wie sie in den Führern geschildert worden waren. Bald erfreuten sich auch Burg- und Schlossruinen einer wachsenden Beliebtheit, die durch Sir Walter Scotts historische Romane wie Ivanhoe zusätzlich befeuert wurde. Die Leute strömten zu den alten Gemäuern und gaben sich dem unsichtbaren Atem von Legenden und Geschichten hin. Reiche Exzentriker, die keine Ruine besaßen, bauten sich einfach solch eine.

Mit der Lakeland-Reihe erschöpft sich Wainwrights Werk nicht. Insgesamt hat er, der mit 48 Jahren sein erstes Buch veröffentlichte, über 50 Bücher geschrieben, viele davon über Wanderungen durch England. Eines von ihnen steckte heute in meinem Rucksack: A Coast to Coast Walk – From St. Bees Head to Robin Hood’s Bay.

Von der wachsenden Beliebtheit des Pennine Walks leitete Wainwright ab, dass vielen Menschen aller Altersstufen nach den Herausforderungen eines Fernwanderweges dürstete. Es war Zeit für eine Alternative. Als Wainwright beschloss, von Küste zu Küste zu laufen, suchte er nach einer Aneinanderreihung öffentlich zugänglicher Pfade, die sehenswerte Orte unter Auslassung größerer Städte und Verkehrsadern miteinander verbanden. Wainwright wollte, dass die Menschen die wundervollen Landschaften genießen konnten, die direkt vor ihrer Haustür lagen, ohne Angst haben zu müssen, unerlaubt private Wege betreten, durch wilde Flüsse schwimmen, über Zäune klettern, durch Felder trampeln oder durch Vorgärten stapfen zu müssen. Um all das zu vermeiden, gestaltete er unter Nutzung öffentlicher Wegerechte einen Pfad, der sich in einem Zickzackkurs durchs Land windet, um natürliche und zivilisatorische Hindernisse herum und besonders sehenswerte Landstriche verbindend, auch wenn sie ein wenig abseits von der geraden Linie liegen, die entsteht, wenn man ein Lineal von St. Bees bis Robin Hood’s Bay anlegt.

Lake District Coast to Coast

Dabei ist Wainwrights Zickzackkurs nicht der eine, offizielle, unumstößlich festgelegte Pfad, dem gefolgt werden muss, sondern vielmehr eine Richtung, eine Ansammlung von Vorschlägen. Wainwrights Schilderungen enthalten immer wieder Ermutigungen, nicht stoisch seinen Spuren zu folgen, sondern selbst aufs Geratewohl loszuziehen und zu erkunden. Er wollte nicht nur Nachfolger durchs Land führen und ihnen seine Entdeckungen mitteilen, sondern er wollte sie auffordern, selbst ein paar gute Karten in die Hand zu nehmen, um ihren eigenen Überlandweg zu finden. »Die Möglichkeiten für Einfallsreichtum und Tatkraft sind unbegrenzt«, schrieb er. Nicht ohne Grund heißt sein Buch »A Coast to Coast Walk« und nicht »The Coast to Coast Walk«. Doch während manche Wanderer sich heute hier und da ihren eigenen Weg suchen und einige gar gänzlich eigene Strecken erarbeitet haben, folgen die meisten noch immer weitgehend den Vorschlägen Wainwrights.

Nachdem er sie lange geplant hatte, unternahm Wainwright die Wanderung 1972. Ein Jahr später erschien das Buch, das alle Charakteristika bietet, die Wainwrights Anhänger an dessen Publikationen so lieben. Noch heute unternimmt so mancher Wanderer die Tour von der einen zur anderen Küste mit einer Ausgabe der Wainwright-Schilderungen im Gepäck, wenn auch weniger zur Orientierung und mehr, um die eigenen Wahrnehmungen mit den Beobachtungen zu vergleichen, die der kauzige Kerl hier in den Siebzigern gemacht hat. Ich war einer von diesen Wanderern. Jeder Blick in Wainwrights Buch, jeder Abgleich seiner charmanten Skizzen und Zeichnungen mit einer natürlichen Formation – einem Berg, einem Bach, einer Brücke – war wie eine kleine Zeitreise. Bei der Lektüre seiner handschriftlichen Anmerkungen, die ich gern zusätzlich zu den Karten zurate zog, hatte ich oft das Gefühl, als würde der alte Mann mit seinem watteweißen Haar mir persönlich Bericht erstatten: als würde er mich begleiten, hinter mir her stromern und seine eigenwilligen, enthusiastischen Erklärungen abliefern, auf diesen Hügel oder jene Baumgruppe deutend, den breiten Mund zu einem schmalen Lächeln verzogen. Aber das war natürlich höchst unwahrscheinlich: Erstens war er seit 1991 tot und zweitens zu Lebzeiten ein solcher Einzelgänger, dass er sich bei seinen Wanderungen nicht einmal von seiner ersten Frau begleiten ließ, wenn er es vermeiden konnte.

Wainwright hat mehr erreicht als er, der bescheidene Mann, der er war, je zu hoffen gewagt hätte: Sein Buch war der Startschuss zu einer Bewegung, die noch heute, 40 Jahre später, anhält: Leute wandern von Küste zu Küste, und wenngleich er weniger präsent ist als früher und seine Bücher, einst millionenfach verkauft, nur noch geringe Auflagen erreichen, wird sein Name auf immer mit dem Lake District verknüpft bleiben. Solange es das Lakeland gibt, werden sich die Leute auch an Wainwright erinnern. Es gab und gibt Bücher und TV Serien über ihn; schon in den 80ern und zuletzt 2007 produzierte die BBC Wainwright-Dokumentationen. 2002 wurde die Wainwright Society gegründet, eine Vereinigung, die sein Vermächtnis lebendig halten will. In Deutschland hat kaum jemand seinen Namen je gehört, aber in England ist er vielen nach wie vor ein Begriff. Der Coast to Coast Walk ist sein bleibendes Denkmal, in dem seine Ideale fortbestehen. »Mit Sicherheit kann es keine feinere Route für einen Fernwanderweg geben!«, zeigte er sich selbst im Vorwort zu seinem Coast to Coast-Führer überzeugt, und die Geschichte gab ihm Recht. Der Coast to Coast Walk gehört heute zu den beliebtesten Fernwanderwegen der Briten. Hunderte, wenn nicht tausende Menschen erlaufen ihn jährlich, viele von ihnen reisen aus aller Herren Länder an.

Zwei Drittel der Strecke führen durch die Gebiete dreier Nationalparks, von denen der Lake District der erste ist. In einer Wahl der 50 besten Wanderwege der Welt des Country Walking Magazins belegte er 2004 den zweiten Platz. Damit lag er vor weltberühmten Routen wie dem Inkapfad nach Machu Picchu, der Tour du Mont-Blanc und dem Weg zum Basiscamp des Mount Everest. Lediglich der Milford Track in Neuseeland stand höher in der Gunst der befragten Reiseführerautoren und anderer Experten. Dennoch hat der Coast to Coast Walk als der einzige unter den großen, populären Fernwanderwegen Englands nicht den Status eines National Trails inne, eines Nationalen Wanderweges, von denen es in England und Wales 15 Stück gibt. Diese werden von Regierungsbehörden wie Natural England gepflegt und beworben, so dass sie meist hervorragend instand und eindeutig beschildert sind. Häufig setzen diese Behörden auch zusätzliche Wegerechte durch, die die Schaffung eines Trails erst ermöglichen. Anders als die meisten der National Trails wurde der Coast to Coast Walk nicht von staatlichen Behörden konzipiert. Es handelt sich, wie bereits beschrieben, auch nicht um einen streng festgelegten Pfad, sondern vielmehr um die Idee, durch anregende Landschaften von Küste zu Küste zu wandern. Ihn zu einem National Trail zu erklären, würde dem Geist Wainwrights, der viel Wert auf die individuelle Gestaltungsfreiheit und Wegwahl des Wanderers gelegt hat, aufs Äußerste widersprechen. Obgleich es Bestrebungen gegeben hat, ihn zu einem National Trail zu machen und ihm all die finanziellen, vermarktungstechnischen und kapazitätsbezogenen Vorteile angedeihen zu lassen, die damit einhergehen, sind sie bis heute nicht Realität geworden. Folglich ist die Beschilderung, wie wir bereits bemerkt hatten, in vielen Gebieten rar oder nicht vorhanden und die Orientierung weitaus schwieriger als auf den meisten anderen großen englischen Wanderwegen. Das sollte sich zwar demnächst ändern – es wurde geplant, den Hauptpfad mit Zeichen zu bestücken, die Wainwrights Handschrift zeigen würden – aber noch war es nicht so weit. Einzig nach dem Lake District, so hatte man uns gesagt, konnten wir streckenweise auf eine durchgängige Beschilderung hoffen. Dort hatten Farmer, andere Wanderer, Landbesitzer und lokale Behörden in manchen Gegenden Wegweiser in Form von hölzernen Schildern, gelben Markierungen an Zäunen oder – insbesondere in Yorkshire – gelben Plastikscheiben angebracht, die den Weg zu den North-Yorkshire-Mooren und der Nordsee wiesen.

So kam es, dass Papa und ich immer wieder innehielten, manchmal alle paar hundert Meter, unsere Karten oder das alte, exquisite Büchlein von Wainwright hervorholten und die – in Wainwrights Fall – handschriftlichen Skizzen und Beschreibungen mit unserer Umgebung verglichen. Wir bestimmten die Himmelsrichtung und gingen schließlich weiter, stets aufmerksam nach kleinen Hinweisen Ausschau haltend, die Wainwright in seinem Buch erwähnt, um seinen Nachfolgern das Zurechtfinden zu erleichtern. Das konnte ein kahler Hügel sein, ein Farmhaus, ein kleiner Zaun oder ein Pfad, der zu Wainwrights Lebzeiten zwischen zwei grünen Hecken eingesunken gewesen war und jetzt womöglich ganz anders aussah. Während die modernen Karten bald von Regen und Schweiß aufgequollen und von anderen Gegenständen im Rucksack geknickt waren, behandelte ich die Wainwright-Ausgabe unwillkürlich wie einen kleinen Schatz.

In mehreren Eiszeiten, zuletzt vor 15.000 Jahren, als auch das St. Bees Tal entstand, hatten sich mächtige Gletscher über die Berge geschoben und eine Vielzahl von U-Tälern geformt, in denen sich grüne Graslandschaften oder Seen wie jener gebildet hatten, an dem wir nun zunächst in einem langen, nach rechts gekrümmten Bogen um den Berg Angler’s Crag entlangwanderten. Auf den Bogen folgten mehr Windungen und einige Klettereinlagen, die technisch einfach, aber aufgrund der Rucksäcke aufreibend waren. Wir stemmten uns Schotter und zerklüfteten Fels hinauf, stets auf unser Gleichgewicht bedacht. Ein Fehltritt und es ginge abwärts bis ins zehn oder zwanzig Meter unter uns liegende Wasser. Alle Schattierungen von Grau und Grün bis ins Braun umgaben uns, dargeboten von Geröllhängen, einzelnen Fichtengruppen, Farnen, Heidekraut … eine eindrucksvolle Landschaft.

Vor uns senkten sich die Wolken weiter ab, der erste Nieselschauer des Tages benetzte unsere Haut. Sobald wir den See hinter uns ließen, würden wir uns wohl mitten in den Wolken wiederfinden. Immer wieder rieselten kleine, leise klickernde Bäche den Hang hinunter. Wir überstiegen sie, wo sie den Pfad schnitten, und liefen in ihnen weiter, wo sie ihr Bett im Pfad fortsetzten. Da der Pfad aus Geröll bestand, ragten genügend Steine aus dem Wasser, damit wir trockene Stiefel behielten. Ab und zu hielten wir, um uns hinzuknien, die Hände zu einer Schale zu formen und uns an den Bächen zu erfrischen. Mit dem Gewicht auf dem Rücken war es eine Geschicklichkeitsübung, nicht vornüber zu kippen, aber ich wollte den Rucksack nicht absetzen. Das unweigerlich folgende Aufsetzen war ein Kraftakt, bei dem mir stets beinahe die Augen aus dem Kopf quollen.

Wegen der intensiven Landwirtschaft in dieser Gegend wurde davon abgeraten, aus Bächen zu trinken, da Pestizide und Tierausscheidungen das Wasser verunreinigen konnten. Aber da es hier direkt vom Hang plätscherte, hofften wir, es sei trinkbar. So konnten wir unsere Reserven von anderthalb Litern pro Person unangetastet lassen.

Nicht nur Wasser kreuzte den Weg, auch Steinmauern verliefen ein ums andere Mal in der Falllinie von den Bergen hinab zur Wasserkante, unterbrochen von kleinen Holztoren auf dem Pfad, und in das Wasser hinein. Vor ein paar Jahren war der Wasserspiegel mit einem kleinen Abschlussdamm angehoben worden, um die Speicherkapazität zu erhöhen. Der See diente als Trinkwasserreservoir für Whitehaven, das zehn Kilometer entfernt lag. An den Bergen führten die Mauern bis an die steilsten Stellen, bis dorthin, wo keine Ziege und kein Schaf hingelangen konnte, um aus dem zugewiesenen Bereich zu entfliehen.

Zwei ältere Damen mit Wanderstöcken und beneidenswert kleinen Rucksäcken kamen uns entgegen.

»Oh, mein Gott!«, rief die eine, als sie mich sah. »Ich bin froh, dass du diesen Rucksack schleppst und nicht ich! Zeltet ihr unterwegs?«

Wir erklärten, dass wir genau das vorhatten. Die beiden wohnten in der Nähe und unternahmen, wie so oft, eine Wanderung um den See. Vier Stunden veranschlagten sie dafür. Als ich erzählte, dass wir heute in Ennerdale Bridge aufgebrochen waren, zog die Wortführerin die Brauen hoch.

»Ach was, wirklich?«, fragte sie. Ihre Achtung ob unserer Rucksäcke war verschwunden. »Da seid ihr aber spät aufgebrochen! Ihr müsst ja ein sehr bequemes Bett gefunden haben.« Wegen ihres vorwurfsvollen Tons schämte ich mich beinahe unserer Dekadenz, bis Viertel vor acht geschlafen zu haben. Andererseits wusste sie nicht, dass wir fast eine Stunde auf unserem Irrweg durch die Wiesen am Nordufer verloren hatten.  

Knorrige Eichen wechselten sich in einem kleinen Stück Wald mit Birken ab, die sich kaum als solche zu erkennen gaben. Ihre Stämme waren fast vollständig mit grünem Moos und Flechten überwachsen, die sich an der Feuchtigkeit ergötzten, die hier herrschte. Am anderen Ufer erhob sich ein vergleichsweise niedriger Berg, den Fichten bewuchsen. Diese für die Region untypische Monokultur bildete den Beginn des größten zusammenhängenden Nutzwaldes des Lake Districts, Ergebnis einer Aufforstungsaktion um 1930, mit der die damalige Forstbehörde für Unmut gesorgt hatte. Dennoch hat sich das Tal weitgehend seinen ursprünglichen Charakter bewahrt. Es würde heute gänzlich anders aussehen, wären Vorschläge für eine Eisenbahnlinie durchs Tal nicht 1884 abgelehnt worden.

Steinplatten, die mit der flachen Seite nach oben gelegt und so gut es ging zusammengefügt worden waren, lösten den Schotterpfad ab. Auch das Auf und Ab hörte auf. Der Weg führte wieder dicht am Wasser entlang, für ein paar Meter fast im Wasser, das die Steine schon befeuchtete. Eine Entenfamilie ließ mich mit ihrem Gekrächze zusammenzucken und schwamm, wie um sich mit ihrem ruhigen Gleiten über meine Schreckhaftigkeit zu belustigen, für ein paar Dutzend Meter neben uns her. 

Am Ende des Sees legten wir unsere Rucksäcke ab, um zu rasten. Das Seewasser, einen halben Meter von unseren Füßen entfernt, war noch immer still. Nichts regte sich. Die spiegelglatte Oberfläche sah aus wie ein großes Stück Blei. Nur weiter draußen kräuselte sie sich etwas. Die winzigen Wellen, die ans Ufer schwappten, wurden vom Plätschern der Bäche übertönt, die von den umliegenden Hängen in den See strömten. Links von uns sirrten in Ufernähe Mücken dicht über der Wasseroberfläche und schwirrten gelegentlich zu einem Picknick zu uns herüber. Sie waren zwergenhaft wie Fruchtfliegen, dürsteten aber nach unserem Blut wie Vampire.

Auch wir genehmigten uns eine kleine Mahlzeit und vertilgten je eine Dose süßen Milchreis. Papa lehnte sich an einen Stein und schloss für einen Moment die Augen. Die Gelegenheit konnte günstiger nicht sein: Rasch packte ich ein paar Konserven aus meinem Rucksack in den seinen.

Der Niesel verstärkte sich zu einem Regenguss. Wir kauerten uns unter eine dürre Birke, die den Schauer nur notdürftig abhielt, aber immerhin ein Gefühl von Schutz vermittelte. Als wir eine Viertelstunde später aufbrachen, konnte ich wie nach jeder kurzen Rast kaum laufen. Mein Gang ähnelte den watschelnden Bewegungen der hämischen Entenfamilie, die neben uns an Land gegangen war. Wir ließen den See hinter uns zurück und durchquerten, einer langgezogenen Mauer folgend, eine Wiese. Vor einer weiteren Fichtenforstung schwenkten wir etwas nach rechts und tauchten in einen Dunstschleier hinein. Die Luft wurde feuchter und kühler.

Wie am Vortag war aufgrund des Rucksackgewichts von 30kg (inkl. vollständiger Zeltausrüstung) auch heute jeder Schritt eine Qual, aber bisher war ich in einem gewissen Trott, in dem ich sie ertrug. Ich hatte das erste Entsetzen überwunden, und das Wissen munterte mich auf, den ersten Tag überstanden zu haben, obgleich ich das zehn Minuten nach dem Aufbruch kaum für möglich gehalten hatte. Diesen Kraftakt musste ich nur ein ums andere Mal wiederholen. Auch Papa schien sich an seine Last gewöhnt zu haben, was – leider – dazu führte, dass er nicht mehr so viel stöhnte und spuckte. In der Pause hatte ich ihn gefragt, wie es lief. »Gut!«, hatte er geantwortet und fröhlich gegrinst, was mich ein bisschen grimmiger stimmte. Die Unbeschwertheit, die in seiner Antwort mitschwang, konnte ich für mich nicht beanspruchen.

Auf einer leicht ansteigenden Schotterstraße durch einen Wald, die anfangs auch für Autos geeignet gewesen wäre, konnten wir uns ungehindert mit den Stöcken voranschieben – Anlass genug für meinen Vater, regelrecht loszustürzen. »Strecke machen!«, rief er mir über die Schulter zu. Ich schleppte mich so gut ich konnte hinterher. Er entfernte sich, bis ich auf geraden Stücken noch eben den gelben Regenüberzug seines Rucksacks aufblitzen sah. Zwischen dem Klackern meiner Stöcke auf dem Schotter vernahm ich gelegentliche Wortfetzen. Sie deuteten darauf hin, dass ihm entgangen war, dass er mich abgehängt hatte. Schließlich schaute er sich doch einmal um und wartete auf mich.

»Probleme?«, fragte er gutgelaunt und ging, gerade als ich ihn einholte und zu seinen Füßen niedersinken wollte, weiter.

Auch hier gab es Bergbäche. Sie glucksten nicht lieblich wie jene zuvor. Wegen der größeren Steigungen rannen sie schneller; sie sprudelten und gurgelten durch den Wald. Erst weiter unten wurde das satte Rauschen zu einem sanfteren Murmeln, bevor sich das Wasser in den Liza ergoss, den Hauptzufluss des Ennerdale Waters, der rechts unter uns strömte. Die Wolken, durch die wir liefen, luden in einem stetigen Nieselregen ihre Last ab. Wir zogen spezielle große Regenponchos an, unter die auch unsere Rucksäcke passten und die uns das Aussehen zweier besonders buckliger Quasimodos verliehen. Der Wind zerrte an ihnen, ein ständiges Rascheln wurde zu unserem Begleiter.

Voraus sahen wir eine Hütte, die in der Karte nicht eingezeichnet war. Sicher, einen Abzweig verpasst zu haben, bogen wir nach rechts ab, um den Liza zu überqueren, durch dessen langgezogenes, von beachtlichen Bergrücken begrenztes Tal wir uns seit dem Ende des Ennerdale Waters bewegten. Wir gelangten an eine Furt, an der Steine aus dem Wasser ragten. Ich stieg auf den, der dem Ufer am nächsten lag, und begann, von einem zum nächsten zu springen. Sie waren glitschig und lagen so weit auseinander, dass die Schritte beinahe in Spagat ausarteten. Der Wind hatte seinen Spaß mit mir. Wollte ich einen Schritt machen, blies er von unten in den Poncho und bauschte ihn auf, sodass ich weder meine Füße sah noch den Stein, auf dem mein nächster Schritt landen sollte. Ich drückte den Poncho herunter und schob mich rasch mit einem Stock von dem Stein ab, auf dem ich stand, damit ich den weiten Schritt schaffte, der nötig war. Diese Sekunde genügte dem Wind, um mir den Kunststoff erneut vor das Gesicht zu wehen. Ich sah nichts außer grünem Kunststoff unter einem Streifen grauen Himmel. Ein rasches Stoßgebet, dann landete der Fuß mit Glück an der richtigen Stelle. Dieser Vorgang wiederholte sich, bis ich auf der anderen Seite angelangt war. Papa folgte mir.

Es ging querfeldein durch die Wildnis. Die Berge voraus offenbarten ein paar hundert Meter Wald an den unteren Hängen, dann verschwanden sie im Grau, das immer undurchdringlicher wurde. Das Wetter machte das Tal und die Berge zu einer unwirtlichen Umgebung. Und wir hatten keine Ahnung, wo genau wir waren. Die Berge sahen alle gleich aus, es gab keine Anhaltspunkte außer der Hütte, vor der wir abgebogen waren. Aber die einzige Hütte, die die Karte zeigte, war Black Sail, die einsamste Jugendherberge Englands.

In diesem Teil des Lake Districts war die Beschilderung nicht annähernd so spärlich wie in anderen Teilen des Coast to Coast Walks – sie war überhaupt nicht vorhanden. Die Behörden hatten die Landschaft nicht mit Hinweisschildern verschandeln wollen, auch nicht für Wanderrouten. Aber wir hatten Glück: Wir entdeckten eine Gruppe Pfadfinder, die in der Wildnis ihre Zelte aufgeschlagen hatten und ganz miserabel dreinblickten. Ihre Zelte standen in tiefen Pfützen – der Boden war nahezu überall geflutet –, der Wind fegte durch das Gras, das sich an den welligen Talboden klammerte, alles und alle waren nass. Wie sich herausstellte, waren wir auf dem Schotterweg viel zügiger voran gekommen als wir für möglich gehalten hatten. Die ominöse Hütte war tatsächlich Black Sail gewesen! Mit der Cola und einer Pause im Trockenen hatte es sich damit erledigt. Zusätzlich zur Hütte hatten wir auch unseren Abzweig zur alternativen, spektakulären Gipfelroute verpasst: über Red Pike, High Stile, High Crag und Haystacks mit seinen Ausblicken bei klarer Sicht auf Buttermere und Ennerdale Water. Jetzt enttäuscht, würde ich am Abend noch froh sein, nicht noch mehr Zeit dort oben verbracht zu haben. Auch Wainwright empfiehlt die Route in seinem Führer nur erfahrenen, sportlichen Wanderern – bei gutem Wetter. Reisebuchautor Bill Bryson ist wenig sportlich und berichtet in Reif für die Insel, wie ihn zwei Freunde mit den harmlos klingenden Worten »Spaziergang« und »Haystacks« zu einer Wahnsinnstat verleitet hatten, die ihn schwören ließ, etwas so Widernatürliches und Dummes nie wieder zu tun. Doch auf dem Gipfel angelangt, der »Terrasse im Himmel inmitten wogender Bergkuppen«, ergriff der Zauber auch ihn: »Ich hatte noch nie etwas auch nur halb so Schönes gesehen.«

Wainwright vergötterte die Gegend gleichermaßen und erklärte im siebten Band seiner Lakelandführer den knapp 600 Meter hohen Gipfel des Haystacks mit seinem kleinen Teich, dem Innominate Tarn, wegen seiner einzigartigen Schönheit und Vielseitigkeit zu seinem Lieblingsgipfel. In seiner Autobiographie Memoirs of an Ex-Fallwanderer geht er in seiner Hingabe zu diesem Gipfel noch einen Schritt weiter:

Alles, worum ich am Ende bitte, ist ein letzter, langer Rastplatz an der Seite des Innominate Tarns auf Haystacks, wo das Wasser sanft an das Kiesufer schwappt und das Heidekraut blüht und Pillar und Gable verlässlich Wache halten. Ein ruhiger Ort, ein einsamer Ort. Ich werde dorthin gehen, zum letzten Mal, und getragen werden: jemand, der mich im Leben kannte, wird mich dorthin bringen und mich aus einer kleinen Schachtel ausleeren und allein zurücklassen. Und wenn du, lieber Leser, ein paar Staubkörner in die Schuhe bekommst, wenn du Haystacks in den folgenden Jahren überquerst, behandle sie bitte mit Respekt. Sie könnten ich sein.

Und so geschah es: Als Wainwright 1991 starb, verstreute seine zweite Frau Betty, mit der er seit 1970 verheiratet gewesen war, seine Asche am Innominate Tarn.

© Fotos: Erik Lorenz

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