Durch Englands Lake District – Teil 4: Cesar und der Herr der Ringe

Lake District
© Erik Lorenz

Der vierte von vier Beiträgen zum Lake District in Nordengland.

Ich quälte mich durch ein Waldstück auf einem verschlammten Pfad zu einer alten Brücke hinauf, als der Regen eine Verschnaufpause machte. In diesem Moment entdeckte ich links ein winziges, unauffälliges Schild: »Camping«. Das war meine Chance, das Zelt nicht im Regen aufbauen zu müssen. Ich folgte einer schmalen Straße aus dem Wald hinaus. An seiner statt erstreckten sich von Steinmauern durchzogene Wiesen, auf denen Schafe und Kühe grasten. Ich musste nicht lange laufen. Am Tor des ersten Grundstücks auf der rechten Seite hing ein weiteres Schild: »Camping«.

Es war ein schönes, steinernes Farmhaus, das seine besten Tage hinter sich zu haben schien. Ich klingelte an der Tür. Dumpfes Hundebellen ertönte, gefolgt von einer Stimme, die ich nicht verstand. Ein Mann öffnete die Tür und im ersten Augenblick glaubte ich, dem Weihnachtsmann gegenüberzustehen: langer, grauer Bart, Brille mit großen, runden Gläsern, kleiner Bierbauch. Im Flur hinter ihm stand der schwanzwedelnde Hund.

Ich räusperte mich. »Kann ich mein Zelt bei Ihnen aufschlagen?«

»Aber selbstverständlich«, murmelte er. »Komm gleich rein, dann zeige ich dir das Badezimmer.«

Ich bückte mich, um meine Stiefel aufzuschnüren. »Das ist nicht nötig«, sagte er und bedeutete mir, ihm zu folgen. Im Haus wurde mir schnell klar, weshalb es nicht nötig war. Der Teppich war, soweit ich das im schummrigen Licht ausmachen konnte, völlig verdreckt. Überall lagen Zangen, Rohre, Spaten und schlammverschmierte Arbeitsschuhe herum. »Das hier ist alles sehr einfach, sehr schlicht«, sagte er über die Schulter und bog rechts ab. »Hier sind wir. Mein Badezimmer, dein Badezimmer.« Ich hörte mir ein paar Anweisungen an – eine halbe Stunde vorher Bescheid geben, wenn ich duschen wollte, damit er Wasser heizen konnte, fünfzig Cent Wassergeld in die Dose auf dem Fensterbrett werfen –, dann schlüpfte er in seine Gummistiefel und führte mich eine Wiese hinab. »Ich bekomme nicht viele Gäste«, sagte er und machte eine weit ausladende Handbewegung. »Die meisten gehen bis nach Shap weiter. Aber der Streckenabschnitt, den du heute überwunden hast, ist der schwerste auf der Wanderung. Immer wieder klopften früher verzweifelte Wanderer bei mir an. Wir schaffen es nicht bis nach Shap, sagten sie, manche mit Tränen in den Augen. Dann fingen sie an zu flehen, bei mir zelten zu dürfen – nicht, dass das nötig war. Natürlich durften sie. So entstand die Idee.«

Durch das Herz Englands

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Durch das Herz Englands – Schritt für Schritt von Küste zu Küste“ von Erik Lorenz.

  • Wiesenburg Verlag
  • 388 Seiten, gebunden
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Lake District England

Wir liefen durch ein kleines Tor auf eine weitere Wiese, hinter welcher der Wald begann. Ich vernahm das Rauschen des Haweswater Beck, des Stauseeabflusses.

»Such dir irgendein Stück Wiese aus«, sagte mein Begleiter. Allzu viel Auswahl gab es nicht: Nur ein paar Quadratmeter ebener Fläche waren mit Rasenmäher oder Sense kurzgehalten worden, gerade genug für mein Zelt. Ich stellte mit einem ausgedehnten Seufzer meinen Rucksack ab und atmete tief durch. Wegen des fortwährenden Regens hatte ich seit dem Aufbruch in Patterdale nur zwei kurze, ungemütliche Pausen gemacht.

Mit raschen Handgriffen packte ich mein neues Ein-Personen-Zelt aus. Mein Gastgeber stellte sich nun als Cesar vor und fragte, woher ich kam und was ich normalerweise machte. Ich befürchtete, der Regen könnte jede Sekunde wieder losbrechen und alles – die Sachen im geöffneten Rucksack und das Zelt, bevor ich Gelegenheit hatte, die wasserfeste Außenhülle überzustreifen – durchnässen.

»Ich baue jetzt rasch auf, in Ordnung?«, sagte ich. »Dann komme ich nochmal hoch und bezahle.«

»Alles klar«, sagte Cesar, entfernte sich aber nicht etwa, sondern wiederholte seine Fragen. Er war redebedürftig – und zwar genau jetzt, nicht später. Auf seinen blassen Beinen, die in kurzen Hosen und den großen, grünen Gummistiefeln steckten, stand er da, eine Hand auf dem Bauch abgelegt, und sah mir zu. Er wog auf meine Antworten hin nachdenklich den Kopf und plapperte ruhig vor sich hin. »Du studierst Wirtschaft? Glaubst du, dass der Euro überleben wird?«

»Ich … maße mir nicht so viel Fachwissen an, Ihnen eine kompetente Antwort zu geben«, sagte ich abwesend, steckte die Aluminiumstangen zusammen und führte sie durch die Zeltösen. »Aber ich hoffe es.«

»Das weiß wohl kaum jemand. Selbst die ganz oben vermuten doch nur, was noch kommt.« Er fragte mich über meine Streckenpläne für die nächsten Tage aus und erzählte, dass er früher, in seinen 20ern und 30ern, selbst viel gewandert war. »Aber jetzt geht das nicht mehr. Ich habe schlimme Arthritis und werde schnell müde. Das Alter.«

Der Kummer, mit dem er den Kopf schüttelte, ließ mich beim Zeltaufbau innehalten. »Na ja«, sagte ich verlegen, »so alt sind Sie doch sicher noch nicht.«

»Ich bin 72.«

»Tatsächlich?«

Ich war wirklich überrascht. Wenn ich mir Bart und Brille wegdachte, hätte ich ihn wegen des lebendigen Funkelns in seinen Augen auf Anfang 60 geschätzt.

»Ja, tatsächlich.«

»Dann sei Ihnen doch gegönnt, es etwas ruhiger angehen zu lassen. Keine Schande. Sie haben es sich verdient.«

»Verdient? Ich weiß nicht. Ruhiger? – Sehr ruhig, das ist das Problem.« Er erzählte, dass er früher im Lake District Ausbilder für Bergsteiger und Bergretter war. »Das waren meine Berufsjahre mit den meisten unbezahlten Überstunden, der anstrengendsten Arbeit und dem miesesten Lohn. Und gleichzeitig waren es die besten Jahre meines Lebens. Diese Zeit, diese Kameradschaft unter uns Bergsteigern, möchte ich nicht missen.«

Die Bergrettungsteams des Lake Districts sind unabhängige, gemeinnützige Organisationen, die sich aus Spenden finanzieren und deren Mitglieder geschulte Freiwillige sind – geschult von Profis wie Cesar. Sie finden und evakuieren verletzte oder verirrte Personen in höheren, schwer zugänglichen Gebieten. An sie wendet sich die Polizei, wenn bei ihr ein Notruf aus den Bergen eingegangen ist. Jedes Team hat seinen eigenen Zuständigkeitsbereich, hilft aber häufig auch Teams in anderen Gegenden. Eines der ersten Teams überhaupt hatten, wie ich von Cesar erfuhr, die Honister-Minenarbeiter gegründet, die trotz ihres harten Berufs über genug Gemeinschaftsgeist verfügten, um Anfang des 20. Jahrhunderts eine Bergrettung zu organisieren. Bei der Erinnerung an die Zeit in seinem Team leuchteten Cesars Augen. Der Anflug eines Lächelns breitete sich kurz auf seinem Gesicht aus, nur um gleich darauf zu verschwinden.

»Aber jetzt bin ich alt und habe Arthritis und bin ständig müde. Es nützt alles nichts mehr.« Erneut schüttelte er den Kopf. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Plötzlich war ich tief bedrückt. Dies hier schien ein trauriger Ort zu sein und er ein trauriger Mann. Er war allein in seinem unaufgeräumten Haus, umgeben von diesem großen, wunderschönen Garten mit den Wiesen und dem Wald. Das Alter plagte ihn. Er hatte nichts als verblassende Erinnerungen und hin und wieder einen entkräfteten Gast, der sich zu ihm verirrte. Vielleicht war er einst verheiratet gewesen, aber eine Frau, die für Ordnung sorgte, schien hier schon lange nicht mehr zu leben. Bei ihm war nur sein Hund, der neben ihm stand und mit dem Schwanz wedelte.

»Das ist übrigens Daisy«, sagte er, meinem Blick folgend. »Sie ist sehr alt. Sie ist blind und fast taub und bekommt nicht mehr viel mit.«

Ich schaute zu Boden. Natürlich ist sie das, dachte ich. Etwas anderes, als dass auch die Hündin aus dem letzten Loch pfiff, hatte ich nicht erwartet. Gab es auf diesem Grundstück denn keinen Hoffnungsschimmer, keinen Funken Lebensfreude?

Cesar verabschiedete sich und ging zurück zum Haus. Er schien bemerkt zu haben, dass er mich vom Zeltaufbau abhielt. Ich folgte ihm mit den Augen und entdeckte dabei neben dem kurzen Pfad in Richtung Haus zwei alte, rote, mit der Öffnung nach unten liegende Kajaks. Das Gras wucherte zu beiden Seiten, Moos bewuchs die nach oben gerichteten Böden. Sie waren wohl seit Jahren nicht von der Stelle bewegt worden. Überbleibsel einer längst vergangenen Jugend? Wie sie da so herumlagen, schienen sie mir eine Art Mahnmal zu sein für die Vergänglichkeit der Dinge.

Als ich das Zelt fertig aufgebaut hatte, ging ich die Wiese weiter hinunter, bis in den Wald hinein und zum Fluss. Ein paar Holzstege verliefen hin und her durch den Wald und kreuz und quer über den Fluss. An einigen Bäumen und Felsen waren Plastikkarten mit Nummern angebracht. Vermutlich gehörte dieses Gelände nicht mehr zu Cesars Grundstück. Ich ging nur einige Meter weit, denn bei der Badezimmerbesichtigung hatte ich mein Interesse an einer Dusche kundgetan, und die halbe Stunde Vorheizzeit war verstrichen. Ich konnte kaum erwarten, endlich die nassen Sachen abzustreifen.

Nachdem ich geduscht hatte, klopfte ich an die Wohnzimmertür und fragte Cesar, was es mit den Stegen auf sich hatte.

»Die habe ich gebaut.«

»Ach.«

Ich schaute ihn aus großen Augen an und er schaute aus ebenso großen Augen hinter seiner großen Brille zurück und musterte mich für ein paar Sekunden, so als würde er mich einschätzen. Schließlich rührte er sich und holte aus einem Regal eine Blechdose hervor. Mit leicht zitternden Händen öffnete er sie und entnahm ihr einen Zettel. Er entfaltete ihn.

»Kennst du den Herrn der Ringe?«, fragte er.

»Klar«, sagte ich, und da ich sicher war, dass es ihm um die Bücher ging, fügte ich hinzu: »Ich habe alle Bände mehrfach gelesen.«

»Sie sind großartig. Sehr tief. Sehr … echt. Die Filme sind ebenfalls großartig. Wie auch immer. Als ich vor sechs Jahren herkam, nachdem …« Er verstummte, seine Schultern sanken nach vorn. Kurz versank er in Gedanken, dann setzte er erneut an. »Vor sechs Jahren bin ich hierher gezogen und habe mich dort unten am Fluss umgeschaut. Was konnte man aus diesem Gelände machen? Und dann entdeckte ich einen bestimmten Felsen. Er sah aus wie irgendein menschenähnliches Wesen, aber was für ein Wesen?« Er machte eine Pause und fuhr fort. »Ich beschloss: Es war ein Hobbit!« Er lächelte verschmitzt, und wie seine Hände so auf seinem Bauch lagen, der sich, während er vergnügt auf den Fußballen wippte, hervor stülpte und wieder einzog, erinnerte er für einen Moment selbst an einen Hobbit. »Ich habe mich weiter umgeschaut und eine Silberbirke gefunden, die wie ein alter Zauberer aussah. Ich begann, das Gelände unten zu erschließen. Ein paar hundert Meter flussaufwärts waren der Wald und die Pflanzen zu einem Dickicht gewachsen, durch das ich nicht hindurch gelangen konnte. Ich musste erst alles lichten, um es zugänglich zu machen. Zwei Jahre habe ich allein dafür gebraucht. Falls du noch nicht zu müde von der Wanderung bist, kannst du es dir gern ansehen.«

Er drückte mir den Zettel in die Hand. Die eine Seite enthielt eine handgemalte Karte mit der Überschrift »Der Hobbit-Pfad – Ein Spaziergang am Flussufer«. Eine rote Linie – die öffentliche Straße, auf der ich die letzten Meter gelaufen war – zog sich über das Blatt. Daneben waren dutzende Details eingezeichnet. Das Farmhaus, die Wiese davor, der Fluss, der Wald, alles unterteilt in kleine Flächen und nummeriert von eins bis 69. Auf der Rückseite waren die Zahlen aufgelistet, daneben standen Hinweise, was es dort zu sehen gab. Das Areal unmittelbar um das Farmhaus herum war der Garten von Gondor, und es war wirklich ein Garten: mit kleinen Hecken, Sträuchern, Büschen, einem umgeleiteten Bachlauf neben einer Trockenmauer. Über dem Bach lagen einige kleine Stege, die nur rüber zur Mauer führten und keinen anderen Zweck erfüllten, als gut auszusehen. Seine Ufer säumten kleine, solarbetriebene Laternen, die sicher bald angehen würden. Darunter, dort, wo mein Zelt stand, lag das Gebiet Dunland. Das Auenland war eine Grasfläche stromaufwärts am Flussufer. Und jenseits der Brücke war das Land Lórien. Jeder dieser Bereiche bestand aus einer Vielzahl an Nummern beziehungsweise Sehenswürdigkeiten. Ich betrachtete das Blatt verblüfft und schaute Cesar an, nun mit anderen Augen. »Wer … haben Sie das gemacht?«

Er nickte verlegen und zuckte mit den Schultern. »Die Spinnerei eines alten Mannes.«

»Sicher nicht die schlimmste mögliche Spinnerei!«

Ich hielt ihn für keinen Spinner. Er lief nicht im Zaubermantel und mit Schwert über seine Farm, sondern hatte einen Ansatzpunkt gefunden, etwas Besonderes aus ihr zu machen und ihr ein Thema zu geben.

»Haben Sie einmal versucht, mehr daraus zu machen?«, fragte ich. »Zum Beispiel gemeinsam mit der Gemeinde Schulklassen, Kindergartengruppen oder Scoutvereine herzubringen?«

»Nein. Ich habe das zu meinem Vergnügen gemacht. Und mache es noch immer. Die Leute, die es sich ansehen wollen, können das gern tun. Aber ich renne nicht herum, erzähle anderen davon und bitte sie, herzukommen.«

Ich wollte sagen: »Aber es steckt so viel Arbeit dahinter!« – aber ich begriff, dass es ihm darum nicht ging. Es ging ihm nicht um Geltung.

Ich nahm den Zettel, verließ das Farmhaus und schritt durch den Garten von Gondor, um gleich verdutzt stehenzubleiben. Zwei Kaninchen hoppelten mit ihren weißen Hintern über den kurzgeschorenen Rasen. Kaum eine Sekunde später, ich wollte eben weitergehen, fiel mein Blick auf die Trockenmauer zu meiner Linken, hinter dem Bach. Darauf saß eines der seltenen Europäischen Eichhörnchen und knabberte eine Nuss. Ich starrte – noch verdutzter – das rotbraune Tier an, das keine fünf Meter von mir entfernt saß, zu mir zurückschaute und in Ruhe weiter fraß. Schließlich wurde ihm meine Gesellschaft aber doch unheimlich. In langen Sätzen eilte es auf der Kante der Mauer in Richtung Wald davon, seine Beute zurücklassend, und sprang weiter unten mit einem galanten Satz auf einen Ast. Es war, als sei ein kleines Komitee gekommen, um mir einen zweiten Blick auf diesen Ort zu ermöglichen, den ich vorhin voreilig als trist und traurig abgetan hatte. Ja, Cesar schien einsam zu sein und unter seinem Alter zu leiden, aber er gab sich keineswegs der Lethargie hin. Kein Wunder, dass überall im Haus Werkzeuge herumlagen! 

Ich lief hinunter in den Wald. Leitern, die an Bäumen lehnten, und auf Steinen liegende Werkzeuge bezeugten, dass das Projekt noch nicht vollendet war. Wahrscheinlich würde es das nie sein. Ich folgte für ein paar Meter dem ersten Steg, einer beachtlichen, stabilen Konstruktion. Der Fluss strömte hier in zwei Armen. Den ersten überquerte ich auf einer Brücke. Dann verzweigte sich der Steg. Ich bog links ab und folgte ihm, bis er an einem kleinen Aussichtspunkt mit einer Bank endete. Ich trat an das Geländer und schaute auf eine drei oder vier Meter hohe Felsstufe, über die das tosende Wasser des zweiten Flussarms schäumte: laut Karte die Raurosfälle. Auf dem Geländer hatte Cesar Scheinwerfer montiert, die der beeindruckenden Szenerie nachts sicher noch mehr Magie verliehen. Ich fragte mich, wie oft Cesar sie einschaltete. Für sich allein bestimmt selten und sonst kam kaum jemand her. Selbst mich, einen Gast, hatte er fast widerwillig und etwas verlegen hier heruntergeschickt, anstatt mir etwa eine Führung anzubieten und stolz mit dem Ergebnis seiner Arbeit zu prahlen. Keine Wichtigtuerei, keine Suche nach Anerkennung.

Der Fluss, der immer wieder über Stufen sprudelte, sich zerteilte und um Felsen schlängelte, war überspannt von etlichen Holzstegen, aber auch von mit Karabinerhaken befestigten Seilbrücken, von Baumhäusern und anderen Konstruktionen. Überall waren Nummern angebracht. Ich ging zurück zur Gabelung des Stegs und bog nach rechts ab. Ich duckte mich unter dem Arm einer Silberbirke hinweg und gelangte auf runde Felsen, die den Steg ablösten und dicht aneinandergedrängt und über und über mit Moos bewachsen einen Pfad bildeten. Das war Nummer 22 auf der Karte – Cesar nannte sie die Ork-Felsen. Mit ausgebreiteten Armen balancierte ich darüber. Eigentlich wollte ich mir den Hobbit-Pfad nur für fünf Minuten ansehen und mich dann hinlegen. Aber was ich sah, gefiel mir so gut und machte mich so neugierig auf den Rest, darauf, was Cesar an bestimmten Stellen gesehen und wie er sie mit seiner Fantasie bereichert hatte, dass ich weiterging. Links war noch immer der Fluss, der hier nicht Haweswater Beck hieß, sondern Anduin, der mächtige Fluss Mittelerdes. Aber rechts des Weges lag ein undurchdringliches Dickicht: Mir wurde verständlich, weshalb Cesar zwei Jahre gebraucht hatte, dem Stück Wildnis diesen kleinen Pfad abzuringen, über den ich schritt. Buschwerk und niedrige Bäume wechselten sich ab. Auf dem Ast eines Bergahorns saß ein Buntspecht. Daneben ragten Kiefern in die Höhe. Erlen wuchsen hier und Eschen, Schlehdorne, Haselnusssträucher, Mehlbeeren, Traubenkirschen und Lärchen. Bäume etlicher Arten, über ein Dutzend davon einheimisch, viele von ihnen von Cesar eingepflanzt. 

Ich gelangte ans Ende von Mittelerde. Hier bog der Weg nach rechts ab, fort vom Fluss, und strebte in einem kleinen Kreis zurück in Richtung Ausgangspunkt. Mein Blick fiel auf einen großen Stein, der am Wegesrand lag und in den jemand die Buchstaben JRRT eingeritzt hatte. Cesar konnte es nicht gewesen sein: Ganz offensichtlich waren die Buchstaben uralt. Ihre Kanten waren unter jahrzehntelanger, vielleicht gar jahrhundertelanger Witterung undeutlich geworden und sie verschwanden fast unter dem Moos. Sie waren kaum lesbar. Zufällig waren dies die Initialen von keinem Geringeren als John Ronald Reuel Tolkien, dem Autor von Der Herr der Ringe. Dementsprechend war dieser Stein laut Legende Tolkiens Grab. Ich durchschritt den Fangorn Wald, der seinem literarischen Vorbild alle Ehre machte. Verworren, voll niedriger, krummwachsender Bäume war er, unter denen ich gebückt hindurchgehen musste. Ihre von Moos überwucherten Äste streckten sich von beiden Seiten über den schmalen Pfad und sahen dabei aus wie die grünen Arme von Ungeheuern, so als würden sich die Bäume über mich recken und mich gleich ergreifen wollen.

Es dämmerte, ich sah immer weniger und mir wurde ein wenig unheimlich. Aber ich genoss weiter den Zauber und ließ mich verzaubern – von Cesar und seiner Fantasie. Dabei ließ mich die Frage nicht los, ob sein Projekt, an dem er seit Jahren mit so großem Einsatz arbeitete, nicht alles noch trauriger machte. Ich fragte mich: Was tat er hier nur? Wofür? Für wen? Er erinnerte sich mit Hingabe an die Kameradschaft, an den Teamgeist, den er bei den Bergrettern erlebt hatte. Jetzt hauste er hier zurückgezogen, beinahe als Einsiedler, und baute aus seinem Umland eine kleine Traumwelt, die danach schrie, von Kinderaugen erkundet und belebt zu werden, die aber kaum jemand zu Gesicht bekam. In gewisser Weise war es traurig.

Auf der anderen Seite hatte dieses Projekt, das er sich gesucht hatte, Cesar wahrscheinlich gerettet, ihn davor bewahrt, sich aufzugeben. Er tat es für sich: Nicht das Ergebnis war das Ziel, sondern die Beschäftigung, so wie andere Kreuzworträtsel lösen. Hier lebte ein Mann im Einklang mit der Natur und folglich nicht allein. Er hatte keine Kinder, aber er verstand, seiner eigenen Kinderei nachzugehen, oder auch der »Spinnerei eines alten Mannes«, wie er es selbst abschätzig genannt hatte. Sich an der Natur zu bereichern und gleichzeitig sie zu bereichern, indem er Bäume pflanzte. Das war eine liebenswerte Spinnerei – und eine beachtliche. Er machte diesen Ort zu etwas Besserem. Und er machte diese Natur Menschen wie mir zugänglich, die sich von seiner Fantasie beeindrucken ließen. Was Cesar hier geschaffen hatte, war magisch. Zur Fantasie hinzu kam das handwerkliche Geschick, das mir Respekt abnötigte. Es war nicht so, dass ich nie etwas Beeindruckenderes gesehen hätte. Bei Nummer 30, den Stürmischen Stromschnellen, rauschte ein wenig Wasser über ein paar kleine Steine. Nichts Besonderes. Der Wald selbst war schön, aber nicht spektakulär. Aber darum ging es nicht. Was mich faszinierte war, dass er diese zahllosen Kleinigkeiten so liebevoll gestaltet und bezeichnet hatte, er, dieser scheinbare alte Griesgram, dieser von Arthritis geplagte Mann, der immer wieder hinaus ging in sein Stück Wald und zu seinem Stück Fluss, sich dort hinstellte und Dinge sah, die anderen Menschen verborgen blieben. Wo ich ein paar Dachslöcher sah, hatte er Trollhöhlen ausgemacht, dort, wo ich sonst achtlos an einer knorrigen, moosbewachsenen Eiche vorbeigeschritten wäre, begegnete ich dank ihm Baumbart, einem der ältesten Lebewesen Mittelerdes. In etwa zwei Meter Höhe zerteilte sich der Stamm in fünf breite Äste, die sich wie mächtige, alte, in sich selbst gedrehte Arme in verschiedene Richtungen ausstreckten. In den Astgabeln wuchsen Farne und bis nach oben wucherten Parasiten. Ja, das konnte nur Baumbart sein.

Nun musste ich nur noch die Totensümpfe durchqueren: in Buch und Film eine Landschaft, auf der vor ihrer Versumpfung einstmals ein Bündnis aus Elben und Menschen die Heere des bösen Herrschers Sauron besiegt hatte. Die Gefallenen blieben liegen, ihre Gebeine überdauerten die Zeit: hier, bei Cesar, symbolisiert durch Schafsknochen – Gebisse, Schädel, Wirbel –, die an Fäden von den Bäumen in den Weg hingen und unter denen ich mich hinwegduckte. In Cesars Welt hatten hier keine Elben und Menschen gekämpft; heroische Schafe hatten ihre Schlacht gefochten.

Mit dem letzten Licht erreichte ich mein Zelt. Meine eigene Schlacht war für heute vorüber.

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