Der dritte von vier Beiträgen zum Lake District in Nordengland.
Ich war so aufgeregt, dass meine Hände zitterten. Dies mochte einer der wichtigsten Momente auf der Wanderung sein. Mit meinem geöffneten Rucksack vor mir saß ich im Schneidersitz auf dem Boden. Ich holte meinen Hocker heraus, den ich in so vielen Diskussionen Papa gegenüber durchgesetzt hatte, holte mein 800-seitiges Buch heraus, holte meine Sonnenbrille heraus und Socken und T-Shirts und Ersatzbatterien. Mit jedem Gegenstand, den ich hervorkramte, wuchs meine Begeisterung. Entzücken wurde zu Ekstase. Das Zelt und mein kleiner Computer blieben, aber klamottentechnisch würde ich ab jetzt mit dem absoluten Minimum reisen. Ich behielt zwei Paar Socken und zwei Unterhosen und für den Oberkörper eine Windjacke und einen dünnen Fleece-Pullover. In meinem Wahn drückte ich die Hälfte der Zahnpastatube ins Waschbecken und zog aus der Notklorolle die überflüssige Papprolle heraus. Ich hatte die Schere schon in der Hand, hielt mich aber in einer beispiellosen Darbietung von Selbstbeherrschung davon ab, von meinen Boxershorts die Beine abzuschneiden und sie zu String Tangas zu machen. Jede Minute, die ich da auf dem Boden saß, wurde mein Rucksack leichter. Er fiel in sich zusammen wie ein aufgeschlitzter Reifen. Ein Traum.
So weit wie Meister Wainwright würde ich es jedoch trotz allem Verzicht nie bringen: Auf kurze Trips ging er nur mit dem, was er am Leibe trug. Selbst für mehrwöchige Wandertouren packte er lediglich einen winzigen Rucksack, der praktisch leer war und auf den er nach eigener Aussage ebenso gut hätte verzichten können. Spezielle Wanderkleidung besaß er keine, nur vier Tweed-Anzüge in unterschiedlicher Qualität. Der beste war für Ratssitzungen, der zweitbeste für das Büro, der drittbeste fürs Wandern und der viertbeste für die Gartenarbeit. Er vertrat die Auffassung, ein Rucksack sei auf einer Wanderung nicht nötig, wunderte sich sogar: »Wie manche Wanderer ihre Ausflüge unter dem Gewicht ihrer riesigen, 20 Kilo-Lasten genießen können, entzieht sich vollkommen meinem Verständnis.«
Ich wollte mir nicht vorstellen, mit welch wortlosem, abfälligem Stirnrunzeln er mich angesichts der Tatsache bedacht hätte, dass der Riese auf meinem Rücken gar um die Hälfte schwerer war. Und zu Recht! Gut, er schleppte zu den Anlässen, auf die er sich bezog, kein Zelt und keinen Schlafsack, sondern nächtigte in Gasthäusern. Aber davon abgesehen war er über die gleichen Hänge, die gleichen Gipfel, durch den gleichen Regen und Wind gelaufen. All das hatte er mit ein paar Karten, Stift und Papier, etwas Medizin, einem Regenmantel und einem Paar Ersatzsocken bestritten, aber ohne sonstige Wechselkleidung. Wurden Hemd und Hose nass, machte dies das Wandern ungemütlich, aber schließlich würden sie doch wieder trocknen. Zusammengenommen wog der Inhalt seines Rucksacks bei einer zweiwöchigen Tour durch die Pennines kaum ein Kilo, wie er stolz vermerkte. Was er unerwähnt ließ, war der unerfreuliche Geruch, mit dem er nach ein paar Tagen zweifellos seine Gastgeber beehrte, und den bettelnden Blick, mit dem er vermutlich des Abends an deren Türen klopfte, auf eine hilfsbereite Farmersfrau hoffend, die seine klammen, muffigen Kleider über Nacht neben dem Kamin aufhängte. In späteren Jahren gab er damit an, trotz der Tatsache, dass er seine Wanderungen fast immer vollkommen durchnässt und frierend beendete, in den Bergen nie krank geworden zu sein. Seinem Sohn zufolge entsprach das nicht ganz der Wahrheit: Ihn hätten furchtbare Erkältungen geplagt. Aber auch die hielten ihn nicht von weiteren Ausflügen ab, noch veranlassten sie ihn, seine Ausrüstung zu überdenken. Er ließ den Regen in der für ihn typischen Gleichmütigkeit über sich ergehen, jedenfalls solange er sich noch seine Pfeife anzünden konnte.
Durch das Herz Englands
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Durch das Herz Englands – Schritt für Schritt von Küste zu Küste“ von Erik Lorenz.
- Wiesenburg Verlag
- 388 Seiten, gebunden
- 26,90,-
- Auch als E-Book erhältlich

Über die Ennerdale Road liefen – ich sollte sagen, lustwandelten – Papa und ich von unserem Hostel in Easedale nach Grasmere hinein und direkt zur Post. Dort händigte uns eine Frau, die durch meine berauschten Augen viel schöner aussah als sie eigentlich war, ein Paket aus. Wir füllten es mit acht Kilogramm an wichtigen und unwichtigen Dingen, die alle eine Gemeinsamkeit hatten: Sie würden nicht mehr an unseren Schultern reißen, nicht mehr unsere Rücken krümmen, nicht mehr unsere Beine stauchen. Wir klebten das Paket mit breiten, braunen Klebestreifen zu: erst nur an den Laschen und Ecken, aber dann verstärkten wir es, umwickelten es weiter, bis nichts mehr von der Pappe zu sehen war. Tief in uns steckte die Angst, das Gepäck könnte durch irgendeine Zauberei seinen Weg zurück in unsere Rucksäcke finden. Wir mussten sichergehen – auch, dass wir es uns, nachdem der Rausch des Aussortierens abgeklungen war, nicht anders überlegen würden. Ich überreichte der Postbeamtin dankbar das Paket. Ihre Hände griffen zu, meine ließen los.
Ihr nachsichtiges Lächeln zeigte mir, dass wir nicht die Ersten waren, die sich verschätzt hatten und hier die selbst auferlegte Bürde minderten. Wir traten aus der Post und auf den Bürgersteig. Ich schaute nach links und rechts. Erst jetzt war ich fähig, Grasmere bewusst wahrzunehmen. Die liebenswürdige Beschaulichkeit dieses idyllisch gelegenen, von wolkenverhangenen Bergen umringten Dorfes hatte schon Dichter William Wordsworth angelockt: Für ihn war Grasmere der »schönste Ort, den der Mensch je entdeckt hat«.
Seit seinen Tagen hatte sich viel verändert: Nicht mehr vorwiegend Farmer und ein paar große Dichter und Denker hielten sich hier auf: Grasmere war nunmehr eines der touristischen Zentren des Lake Districts. Seine Lage war natürlich noch immer die gleiche und noch immer war sie vollkommen: mit einem See 500 Meter südlich des Ortes und dem Fluss Rothay zur Seite, mit dramatisch steilen, oben zerklüfteten Bergen rundherum, viel Grün, haufenweise Weidegründen, hübschen Schiefermauern, dem gelegentlichen Quotenschaf … Es schien perfekt – so perfekt, dass die Besucher in Scharen kamen. Viele von den Leuten, die ich sah, waren Wanderer. Zwei oder drei Outdoor Shops bedienten diese Klientel, aber die meisten Geschäfte richteten sich mit Souvenirs oder Erzeugnissen lokaler Künstler an die vielen touristischen Bummler, die mit dem Auto anreisten und sich ein oder zwei Tage einer traumhaften Kulisse aussetzen wollten. Es gab einen Supermarkt (in dem die Beschriftung einer Eistruhe mit unverwüstlichem Optimismus verkündete, »Sommer« sei »eine Frage der Einstellung«), einige Galerien und eine Hand voll einladender Etablissements und protziger Hotels. All diese Einrichtungen hatten gemeinsam, dass sie sich in den Ort einfügten, sich seiner Seele unterordneten, statt sie zu vernichten. Grasmere war, wie mir schien, architektonisch sanft kommerzialisiert worden, aber angesichts der Massen, die herströmten, ließ sich der Eindruck eines einträglichen Touristendorfes kaum vermeiden. Diesen Eindruck hatte Michael Dunn schon 1984, als er Grasmere als »vulgäre« Touristenfalle beschrieb, deren trübe Geschäftigkeit den Mangel an Interessantem nicht verbergen könne. »Es gibt nie einen Zweifel«, beschwerte er sich, »dass das Hauptziel ist, den Touristen von seinem Geld zu trennen, und es wird ohne Scham und Subtilität verfolgt.« Mir erschien Grasmere trotz allem charmant.
Neben Wanderern kamen offenbar rüstige Rentner gern her. Die meisten von ihnen machten einen wohlbetuchten Eindruck. Sie hatten den Gehstock für ein paar Tage gegen den Trekkingstock eingetauscht, sich hochpreisige, übermäßig saubere Jacken von Jack Wolfskin oder Fleece-Pullover von The Northface übergestreift und flanierten schnatternd über die Gehsteige, in einer Atmosphäre von Wildnis und Betätigung badend, ohne dass die meisten von ihnen auch nur einen Schweißtropfen vergossen. Sie tranken im Cumbria Café einen Tee, kauften in der Croft House Bakery frisch zubereiteten Kuchen oder im Gingerbread Shop handgemachtes Ingwerbrot, bevor sie zur Nacht in einer der vielen Unterkünfte stilvoll abstiegen. Viele Unterkünfte nannten sich selbst Cottage: Sie bedienten sich am Wohlbehagen, das der Begriff ausstrahlt, selbst wenn sie in Größe und Eleganz eher üppigen Villen gleichkamen.
Grasmere ist ein Ort, den man zu Fuß erkunden will und auch nur zu Fuß erkunden kann. Mit dem Auto durchquert man ihn in wenigen Sekunden. Ein paar schmale Straßen und überall anmutige viktorianische Landhäuser mit Schieferfassaden und hohen Fenstern, hinter denen vornehm möblierte Räume mit Deckenbalken liegen, das ist Grasmere. Die Gebäude machen sich in ihrer Pracht gegenseitig Konkurrenz. Wir liefen und staunten.
Den Gingerbread Shop besuchten mitnichten nur Rentner, sondern auch wir, zu interessant klang, was ich darüber wusste. Zwei wohlbeleibte Frauen mit Schürze und weißen Häubchen standen in einer winzigen, vollgestopften Kammer hinter einer Theke – vollgestopft mit altmodischen Schränken, Regalen, Bildern und liebevoll verpackten Waren. Das originale Grasmere Ingwerbrot lag in allen Ausführungen aus und hausgemachte, typisch kumbrische Rumbutter, Ingwerbier, Marmeladen, Buttertoffees aus der eigenen Küche sowie aus Penrith, Toffeesoße aus Cartmel Village, Minze-Kuchen aus Kendal und andere Köstlichkeiten der Gegend. Die beiden Frauen sahen aus, als würden sie dort seit anderthalb Jahrhunderten unverändert stehen und ihre Waren feilbieten, und gewissermaßen stimmte das. Das kleine Häuschen des Gingerbread Shops an der Ecke des Friedhofs der St. Oswald’s Kirche im Ortsinneren war schon 1630 erbaut worden. Zunächst hatte es als Dorfschule gedient. Damals bestand keine Schulpflicht. Nur wohlhabende Bürger konnten sich erlauben, ihre Jungen für einen Penny am Tag zum Unterricht zu schicken. Als lange Zeit später die Schulpflicht eingeführt wurde, genügte die kleine Kammer nicht mehr. Eine Schule wurde in der Nähe gebaut und das Häuschen stand leer. Aber nicht lange. Eine Familie – die Nelsons – mietete sich ein. Sie war Sarah Nelson, eine arme Köchin, die für den niederen Adel Kuchen buk und Wäsche wusch; er war Wilfried Nelson, ein Farmarbeiter und Teilzeittotengräber. Das Einkommen beider genügte kaum, um die zwei Töchter zu versorgen. Im neuen Häuschen versuchte Sarah sich das erste Mal an Ingwerbrot und -lebkuchen. In weißer Schürze und Schal saß sie auf dem gepflasterten Hof vor dem Häuschen und verkaufte auf einem Baumstumpf den viktorianischen Touristen ihre Backwaren, die sie in pflanzliches Pergament wickelte. Darauf leuchtete der blaue Aufdruck mit weißer Schrift, der Warnung und Versprechen zugleich war: »Sarah Nelson’s Celebrated Grasmere Gingerbread – None Genuine Without Trademark« (»nicht echt ohne Markenzeichen«). Sie machte ihr Ingwerbrot zu einer Marke und schützte sich so vor Nachahmern. Die Rezepte verbarg sie im lokalen Banktresor.
Sie hängte einen Vorhang vor die Küche, um einen Durchgang von der Tür zur Kammer zu bilden, die fortan als zwergenhafter Shop dienen würde. Die Qualität überzeugte, die Erzeugnisse aus der kleinen Backstube sprachen sich herum. In den ruhigen Wintermonaten handelte sie mit Gewürzen und brachte Kindern mithilfe von Lebkuchenbuchstaben das Buchstabieren bei. Bücher waren teuer und selten – dank Sarah hatten die Kinder beim Lernen dennoch ihren Spaß. Sarah war zufrieden.
Aber das Leben machte es ihr nicht leicht. 1869 und 1870 starben ihre beiden Töchter an Tuberkulose, zehn Jahre darauf folgte ihnen ihr Mann Wilfried. Sarah stürzte sich noch mehr in die Arbeit und buk bis ins hohe Alter ihr Ingwerbrot. Als sie 1904 mit 88 Jahren starb, gingen ihre geheimen Rezepturen an ihre Großnichte, die sie verkaufte. Die heutigen Besitzer des Gingerbread Shops, die Wilsons, führen das Geschäft seit über 60 Jahren. Das Rezept lagert sicher in der National Westminster Bank in Ambleside.
Noch heute schreiten Besucher die paar Schritte von der Tür zum Verkaufsraum. Wo linker Hand ein Vorhang die Küche verdeckte, erfüllt diesen Zweck nun eine Aufstellwand, über die der scharf-würzige Geruch von Ingwer und des frischen, warmen Teigs zieht. Täglich wird dahinter frisch gebacken. Ich hörte Klappern und Murmeln, konnte aber nicht ganz über die Wand spähen.
Sarah Nelsons blauweißes Logo prangt immer noch auf den Packungen. Und auch aus der Zeit vor Sarah gibt es Spuren: Kleiderhaken, an die einst die Schuljungen ihre Jacken hängten, der Schrank, in dem die Schiefertafeln aufbewahrt wurden. Es ist ein kleines, feines Gebäude in einer kleinen, feinen Ortschaft – beides bildet eine Verbindung, die den Charme des beschaulichen Grasmeres verstärkt.
Eine der beiden Frauen hinter dem Verkaufstresen bemerkte, wie interessiert ich mich in der Kammer umschaute.
»Kann ich helfen?«, fragte sie mit einem breiten, herzlichen Lächeln. Sie war Anfang 50 und stellte sich als Fay vor.
»Offen gestanden schaue ich mich nur um«, sagte ich. »Ich bin kein großer Ingwerfan.«
Das stimmte, aber eines musste ich dem Kraut lassen: Es hat Einiges zu bieten. Nicht ohne Grund begeisterte sich der chinesische Philosoph Konfuzius schon vor zweieinhalb Jahrtausenden dafür. Es wirkt antibakteriell, antiviral und auch antiemetisch, schützt also vor Erbrechen. Damit hilft es beispielsweise gegen Reiseübelkeit. Es steigert die Gallensaftproduktion, fördert die Durchblutung und wird von chinesischen, indischen und japanischen Heilern seit Jahrtausenden gegen Rheuma, Muskelschmerzen, Entzündungen und Erkältungen eingesetzt. Als hätte es mit alldem nicht längst seine Schuldigkeit getan, wirkt es auch noch als Aphrodisiakum. Dazu kommen seine vielfältigen Einsatzmöglichkeiten als Nahrungsmittel. In Ostasien war es vor der Verbreitung der Chilischoten aus Amerika neben Pfeffer das wichtigste scharfe Gewürz, heute wird es neben vielen anderen Verwendungen für Getränke wie Ginger Ale benutzt.
»Ha! Du denkst, du seiest kein großer Ingwerfan!«, rief Fay und klatschte in die Hände. »Aber sicher bildest du dir nicht ein, es besser zu wissen als Leute wie Jamie Oliver und Nicole Kidman?«
»Bei Nicole bin ich mir nicht sicher, aber …«
»Fakt ist doch, dass du erstens noch nicht unser Ingwerbrot und unseren Lebkuchen gekostet und dass du zweitens Ingwerlebkuchen noch nicht in allen Formen und Varianten probiert hast.«
»Das stimmt, aber das gilt auch für …«
»Nehmen wir doch: Orangenlikör. Hast du es damit versucht?«
»Ich – nein, aber …«
»Ha! Na, also!« Fay freute sich und wurde immer enthusiastischer. Ich begriff: Sie war auf einem Missionierungsfeldzug. So schnell würde ich mich aus ihrem Schwitzkasten nicht befreien können. Die jüngere, etwas schmalere Verkäuferin zu ihrer Linken lachte schüchtern.
»Du musst den Lebkuchen in Cointreau oder einem ähnlichen Likör aufweichen und ihn zu Crème fraîche servieren.«
Ich nickte. »Ah«, sagte ich. Und: »Aha.« Ich glaubte nicht, dass mehr Worte aus meinem Mund nötig waren. Und das stimmte. Fay bestritt unser Gespräch ganz gut allein.
»Man kann die Lebkuchen auch aufwärmen – zu unserem Butterrum oder einer Portion Eis schmeckt das köstlich! Oder du zerbröselst sie und gibst sie mit Schlagsahne in die Mitte einer frischen Ananasscheibe.«
Ich räusperte mich. Mir war ein sicherer Plan eingefallen, wie ich ihr Einhalt gebieten konnte. Es wurde auch Zeit. Hinter mir hatte sich mittlerweile eine Schlange von fünf Personen gebildet, was bedeutete: Die Kammer war bis zum Bersten gefüllt. Mein Gedanke: Engländer mochten Tee – klare Sache. »Ich habe Ingwerlebkuchen schon zum Nachmittagstee gegessen«, sagte ich und grinste kokett.
Für einen Augenblick sah sie mich aus großen Augen und mit gespieltem Ernst an, als würde sie an meinem Verstand zweifeln. Dann verzog sich ihr breiter Mund langsam zu ihrem charakteristischen Grinsen. »Machst – du – Witze?«
Es war keine Frage, es war ein von schallendem Gelächter begleiteter Ausruf. »Ich weiß, wovon du redest«, fuhr sie fort. »Von diesen geschmacklosen Keksen, die man in jedem mittelmäßigen Café zu seiner Plörre bekommt. Aber ich rede hier vom Grasmere Gingerbread, mein Freund. Das isst du bedeckt mit pochierten Birnen, beträufelt mit warmer Schokolade, zu einem Glas Rot- oder meinetwegen auch Glühwein. Ich rede nicht von eingeschweißtem Staub, ich rede von einem 150 Jahre alten Rezept! Ich rede von Himbeerlikör mit Schlagsahne! Hast du das zu Ingwerlebkuchen probiert?«
»Ich … nein.« Ich ließ die Schultern hängen. Sie hatte mich, wo sie mich haben wollte: Beinahe schämte ich mich. Ich hatte versagt. Es tat mir leid.
»Ha!«, rief sie, und es klang wie der Jubelschrei eines Staatsanwalts, der den Angeklagten endlich ohne jeden Zweifel überführt hat. Sie konnte ihren Sieg nicht unkommentiert in der Kammer stehen lassen. Sie hatte mich gebrochen, aber ihr ging es um mehr. Ihr ging es um einen Verkauf. »Siehst du!«, fügte sie hinzu. Und dann: »Siehst du!«
Sie grinste.
Ich mochte sie. Sie liebte ihren Job, sie liebte das Produkt, das sie verkaufte. Warum auch nicht? Es war ein traditionsreiches, hochwertiges Produkt, das vielen Leuten Freude bereitete. Sicher traf sie nicht oft auf solch erbitterten Widerstand wie bei mir. Vielleicht ist Ignoranz auch das zutreffendere Wort. Die meisten Kunden wussten die Köstlichkeiten wohl besser zu schätzen als ich. Ich wollte mich nur an der Atmosphäre erfreuen, an der Einrichtung, an der Aura, die hier von allem ausging und mich in die Zeit vor der totalen Macht globaler Nahrungsmittelkonzerne versetzte.
Ich kaufte nichts. Fay nahm es mir nicht übel. Sie lächelte und wünschte mir einen schönen Tag. Den wünschte ich ihr auch. Sie würde ihn haben. Die Schlange hinter mir reichte bis vor die Tür.
Genau dort traf ich Papa, der auf mich gewartet hatte. Familie Nelson – Sarah, ihr Mann Wilfried und die Kinder – ruhte unmittelbar neben dem Häuschen auf dem Friedhof der St. Oswald’s Kirche aus dem 13. Jahrhundert. Sie alle waren in der gleichen guten Nachbarschaft bestattet worden, in der sie auch gelebt hatten: in der einer anderen, berühmten Familie – der von William Wordsworth. Die Wordsworths ruhten in einem unscheinbaren Grab, eingefasst von einem kleinen, schwarzen Zaun. Seit über hundert Jahren war dieses Grab einer der am meisten besuchten literarischen Wallfahrtsorte Englands. Bald nach dem Dahinscheiden des Dichters zog es dessen Anhänger an. Wordsworth hatte das Glück, schon zu seinen Lebzeiten anerkannt zu werden. Besonders ab 1820 wuchs sein Ansehen, weil die zeitgenössische Kritik seine frühen Gedichte positiver als bisher beurteilte. Ihn erfüllte das mit Genugtuung. Er arbeitete zielgerichtet und war auf seinen eigenen Ruf bedacht. Wichtiger als der Ruf war ihm aber immer seine künstlerische Freiheit. Als Queen Victoria ihm 1843 eine besondere Ehre zuteilwerden ließ und ihn zum Poet Laureate ernannte, zum königlichen Hofdichter, nahm er nur ungern an. Zweimal hatte er zuvor abgelehnt: Ihn reizte nicht, Gedichte für offizielle Anlässe und nationale Ereignisse zu verfassen, außerdem fühlte er sich zu alt. Er sagte erst zu, als Premierminister Robert Peel ihm versicherte, von ihm werde nichts erwartet. In seiner Zeit als Poet Laureate schrieb er dann auch kein einziges offizielles Gedicht nieder – als erster und einziger aller Träger dieses Amtes.
Die Faszination, die Wordsworth ausübt, dauert fort: Heute kommen jährlich rund 130.000 Besucher zu seinem Grab. Es gab keine Blumen, nur ein wenig Gras und den schnörkellosen Klotz von einem Grabstein, beschattet von einem Eibenbaum, den Wordsworth einst selbst gepflanzt hatte. Hier wurde Wordsworth 1850 begraben, nachdem er sich zuvor im Alter von 80 Jahren bei einem seiner zahlreichen Spaziergänge erkältet hatte und kurz darauf in seinem letzten Haus, Rydal Mount, verstorben war.
Die Lakes hatte er aus seiner Kindheit gekannt, aber das Studium und viele Reisen führten ihn fort, zunächst nach Cambridge und dann ins restliche Großbritannien, nach Frankreich, Italien und Deutschland, wo die stärkste Empfindung dieses empfindsamen Mannes übrigens das Heimweh war. Mit seiner Ausbildung und seinen Reisen ging auch einher, dass er von seiner Schwester Dorothy getrennt wurde. Als Kinder waren sich die beiden sehr nahe gewesen. Als er in seine Heimatregion zurückkehrte, lag William viel daran, die frühere Nähe wiederherzustellen und seine Schwester dauerhaft in seine Nähe zu bringen. Beides gelang ihm, als er schließlich nach Grasmere kam. Hier soll er auch im heutigen Gingerbread Shop unterrichtet haben, als das Haus noch eine Schule beherbergte.
Wie das restliche Grasmere war auch der Friedhof nicht um Ideen für zusätzliche Einnahmen verlegen. Hier konnten Bewunderer des Dichters für zehn Pfund eine kleine Narzisse pflanzen lassen, ganz im Zeichen der in seinem bekanntesten Gedicht I Wandered Lonely as a Cloud erwähnten »golden daffodils«. Gegen eine großzügigere Spende wurden kleine Fußwegsteine mit dem eigenen Namen in den Boden des Friedhofs eingelassen, auf dass der Wohltäter den über ihn schreitenden Andächtigen von nun an geleite.

© Erik Lorenz
Wir verweilten nicht lange bei den Gebeinen des Dichters oder den Versuchen, sie zu Geld zu machen. Uns lockte der Ort, an dem er gelebt und gearbeitet hatte, an dem die Empfindungen, die ihm der Lake District einflößte, über seine Finger auf das Papier tropften und unvergängliche romantische Meisterwerke schufen.
Wordsworths Dove Cottage lag ein paar Minuten südöstlich des überschaubaren Ortskerns. Es gehörte dem Wordsworth Trust, der es bereits 1891 erworben und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte, um es in den »ewigen Besitz all derer« zu übergeben, »die auf der ganzen Welt englische Poesie lieben«.
Die zum Haus gehörende Anlage, die aus dem eigentlichen Museum, einem Restaurant, einem Shop, einem Veranstaltungsraum und anderen Häusern bestand, erstreckte sich über mehrere, dicht beieinander gebaute Schiefergebäude. Allein das Haus, in dem Wordsworth selbst gewohnt hatte, war eine weiß getünchte Steinkonstruktion – der Kalk sollte die Feuchte draußen halten – und fiel damit strenggenommen im Vergleich zu seinen Nachbarn etwas ab. Aber mit dem kleinen Garten davor, in dem William und Dorothy einen großen Teil ihrer Freizeit verbracht, Blumen und Gemüse in absichtlich beliebiger Anordnung gepflanzt und Schmetterlinge und Vögel beobachtet hatten, sah es heimelig genug aus. Es fiel mir leicht, mir vorzustellen, mich hinter den Fenstern an einem alten Schreibtisch niederzulassen, die Feder zu schwingen und die Tinte unentwegt fließen zu lassen. Wir lösten im Shop nebenan unsere Eintrittskarten und betraten Dove Cottage, das vermutlich Anfang des 17. Jahrhunderts als Gasthaus mit dem Namen Dove and Olive an der Hauptroute nach Ambleside im Süden und Keswick im Norden gebaut worden war. Ein Gasthaus blieb es für über 170 Jahre, bis es 1793 geschlossen wurde.
Die behagliche äußere Erscheinung setzte sich innen fort. Möbelstücke und andere Besitztümer von Wordsworth füllten die Räume. Dort hing die königliche Urkunde, die ihn zum Poet Laureate erhoben hatte, hier stand sein berühmter Koffer, in dessen Innenseite er mühevoll seinen Namen genäht hatte, ohne ausreichend Platz für das letzte h zu lassen, das er in die obere Ecke gequetscht hatte. Insgesamt acht Zimmer gab es – für die Verhältnisse des Lakelands eine ganze Menge. Im Erdgeschoss begutachteten wir Wohnzimmer, Küche und Vorratskammer, oben Dorothys Schlaf-, Williams Arbeits-, das mit Zeitungen verkleidete Kinder- und das Gästezimmer, viele davon holzgetäfelt und mit Schieferböden. Das waren Räume, durch die Wordsworth mit seiner Schwester Dorothy und seiner Frau Mary geschlendert, Tische, an denen er mit Sir Walter Scott gespeist, Fenster, durch die er über Felder auf Lake Grasmere geblickt, Stühle, auf denen er mit seinem Dichtergefährten Samuel Taylor Coleridge gesessen und diskutiert hatte. Mit Coleridge hatte er 1798 die Gedichtsammlung Lyrical Ballads herausgegeben und damit die englische Romantik begründet. Erst drei Jahre zuvor hatte diese bedeutsame Freundschaft begonnen. Doch das entscheidende Jahr war 1797, als Coleridge über 60 Kilometer lief, um Wordsworth für zwei oder drei Tage zu besuchen. Er stapfte einen Hügel in der Grafschaft Dorset im südwestlichen England hinab, setzte über ein Tor, schob sich durch ein Reisfeld und platzte in den Garten von William und Dorothy, in dem die beiden gerade arbeiteten.
Coleridge stand neben sich, ließ sich treiben wie ein mast- und ruderloses Schiff: Kürzlich hatte er sich mit Robert Southey überworfen, einem weiteren Dichter des Lakelands, mit dem er zum Beispiel das Drama The Fall of Robespierre verfasst hatte. Kein Mann könne groß genug sein, die Leere in seinem Herzen zu füllen, so Coleridge. Er irrte sich. In William Wordsworth fand er einen Freund und Kollegen, der viele seiner eigenen Visionen teilte. Beide waren enttäuscht von den Auswirkungen der Französischen Revolution, von der Terrorherrschaft, die den von beiden erhofften Wandel ersetzt hatte. Aus drei Tagen wurden drei Wochen, in denen die beiden Männer endlose nächtliche Gespräche über eine neue Welt führten, eine Welt, die von ihrer Poesie gestalten werden sollte. Ja, sie wollten nicht weniger als die Welt verändern – und sie taten es. Fort mit der bloßen Rationalität und Logik! Wie im Fieber schrieben sie gemeinsam an einem Tisch, ergänzten die Notizen, bereicherten sich an der Geisteskraft des anderen. Wordsworths Kontrolliertheit und Coleridges Spontanität vervollkommneten einander auch in der Dichtung. Das Ganze war größer als die Summe seiner Einzelteile, und die beiden wussten es. Sie trieben sich an, in neue Höhen.
Ausgedehnte Wanderungen führten sie durch die Landschaft von Dorset. Als sie über die sanft gewellten und mit Wiesen und Hecken bedeckten Quantock Hügel spazierten, entwickelten sie die Idee zu den Lyrischen Balladen. Mit ihnen stellten sie gewohnte, geordnet-kunstvolle Versstrukturen in Frage und sprengten ihre Grenzen. Die Sammlung begann mit The Rime of the Ancient Mariner (Die Ballade vom alten Seemann), Coleridges längstem Gedicht, aus dem, ähnlich wie bei Goethes Faust, viele Zeilen für immer als Sprichwörter in die englische Sprache übergingen. Den Schlusspunkt der Sammlung setzte Wordsworth mit Tintern Abbey über eine Klosterruine im walisischen Wye Valley nahe dem Dorf Tintern. Weder Liebe noch Religion waren Gegenstand der Gedichte, sondern Menschen, die an den Rand gedrängt, entrechtet und enteignet waren. Es waren Gedichte, die alle verstehen und nachempfinden können sollten.
Aus heutiger Sicht formten die beiden eine der denkwürdigsten literarischen Freundschaften und Arbeitsgemeinschaften englischer Sprache. Dabei war die Rollenverteilung klar: Coleridge bewunderte Wordsworth über alle Maßen und Wordsworth nahm die Bewunderung an. Letzterer bestand darauf, auf dem Cover der Lyrischen Balladen als alleiniger Autor zu erscheinen und hielt die alleinigen Rechte am Gemeinschaftswerk. Coleridge erduldete die Ungleichbehandlung. Sie demütigte ihn, säte die Saat für Selbstzweifel, die sich später tief in sein Talent fraßen und seine Hand erstarren ließen. Aber er begehrte nicht auf. So eng war das Band, das zwischen den beiden Dichtern entstand, dass Coleridge den Wordsworths folgte, als diese 1799 umsiedelten. William und Dorothy ließen sich in Grasmere nieder, wo William auf einer Wanderung mit Coleridge das leerstehende Dove Cottage entdeckt und sich darin verliebt hatte. 1802 kam ihnen Williams Kindheitsfreundin Mary Hutchinson nach, die er im gleichen Jahr heiratete und mit der er in Dove Cottage drei von insgesamt fünf Kindern hatte. Coleridge zog mit seiner Familie ins nahegelegene, etwas größere Keswick, von wo er für die nächsten Jahre nahezu unentwegt zu ausgedehnten Wanderungen aufbrach, eine zu dieser Zeit ungewöhnliche Betätigung. Einheimische, vor allem Farmer, waren aufgrund ihrer Lebensweise ständig in den Fells unterwegs, aber Coleridge war der erste, der Scafell Pike nachweislich rein zur eigenen Belustigung bestieg. Er lief oftmals von Keswick über den Helvellyn nach Grasmere, wo im Dove Cottage viele Treffen stattfanden. Hier planten die Dichter die zweite, überarbeitete Ausgabe der Lyrical Ballads. Doch langsam kühlte sich die Stimmung zwischen den beiden ab. Stück für Stück entfremdeten sie sich. Wordsworths Ansehen wuchs mit seiner zunehmenden Schöpfungskraft, wenngleich das seinen leeren Geldbeutel lange nicht füllte. Coleridge litt derweil unter einer Schreibblockade, kämpfte mit Eheproblemen – und bald auch mit einer Opiumsucht, die von ihm Besitz zu ergreifen drohte und Wordsworth abstieß. Die wilde Wechselhaftigkeit seines Freundes passte nicht mehr zu seiner eigenen Arbeitsweise, entfachte nicht seine Kreativität, sondern war eine Last. Coleridge bemühte sich weiter mit Herz und Seele um die Freundschaft, um die intellektuelle und spirituelle Vertrautheit, die ihm so wichtig war, aber ebendieses Bemühen ermüdete Wordsworth mit der Zeit. Es verging noch ein Jahrzehnt, bis Coleridge von einem gemeinsamen Freund erfuhr, Wordsworth halte ihn für einen »faulen Säufer« und ein »Ärgernis«. Coleridge hatte selbst schon zugegeben, im Vergleich zum disziplinierten, produktiven Wordsworth eher träge zu sein, doch angesichts der Worte seines Freundes fühlte er sich, als sei aus einem blauen Himmel ein Donnerschlag auf ihn herniedergegangen. Die langjährige, fruchtbare Freundschaft lag in Scherben. Später versöhnten sie sich, aber die frühere Nähe kehrte nie zurück. Sie trafen sich selten und sprachen kaum miteinander. Das beklagenswerte Ende einer großen Geschichte, deren Herz jedoch fortbesteht: eine Reihe ausdrucksstarker Gedichte, die ohne solch leidenschaftliche Zusammenarbeit nie entstanden wären.
Dorothy brachte derweil ihre eigenen Worte nicht minder emsig zu Papier. Sie führte während der Jahre in Dove Cottage ausführlich Tagebuch über das Familienleben und die zahlreichen Besucher. Ihre Aufzeichnungen wurden 1897 als The Grasmere Journal veröffentlicht. 1802 verfasste sie einen Eintrag, der – wie so viele andere – ihren Bruder inspirieren würde. In diesem Fall bildete er die Grundlage für eines seiner bedeutendsten Werke. Nach einer Wanderung entlang des Ullswater, des zweitgrößten Sees des Lake Districts, den wir morgen erreichen würden, schrieb sie von dem wütenden Wind und dem rauen Wasser. Als sie die Wälder hinter dem mittelalterlichen Wildpark Gowbarrow Park nördlich des Sees erreichten, sahen sie »ein paar Narzissen nahe am Ufer«. Sie vermuteten, der See habe die Samen an dieser Stelle an Land getragen, aber als sie weitergingen, entdeckten sie immer mehr Blumen unter den Ästen der Bäume und das Ufer flankierend – in einem Gürtel so breit wie eine Landstraße. »Niemals habe ich so wunderschöne Narzissen gesehen«, bemerkte Dorothy, »sie wuchsen zwischen den bemoosten Steinen, manche betteten ihre müden Köpfe auf diesen Steinen wie auf einem Kissen und die anderen warfen sich hin und her, torkelten und tanzten und schienen als lachten sie wahrhaftig mit dem Wind, der sie über den See anblies, so heiter sahen sie aus, sich ständig umschauend, sich ständig verändernd.«
Dann kam – wie es sich für den Lake District gehört – der Regen, der beide durchnässte. Zwei Jahre nach diesem Ereignis regten diese Aufzeichnungen William an, sein bereits mehrfach erwähntes I Wandered Lonely as a Cloud zu dichten.
Wir schlenderten weiter durch das Haus, das noch immer Leben und Geborgenheit ausstrahlte. Ein rußgeschwärzter Kamin sah aus, als könne das Feuer jeden Moment auflodern. Kein Wunder, dass Wordsworth zu einem führenden Dichter der Romantikbewegung geworden war und hier seine wichtigsten, gelungensten Gedichte geschrieben hatte. Sich eine andere, weniger durch Leidenschaft geprägte Gesinnung anzueignen und eine andere Gattung zu bedienen wäre hier schwerlich möglich gewesen. Thomas de Quincey, ein weiterer (opiumabhängiger) Schriftsteller und häufiger Besucher Wordsworths, empfand, das Haus seines Freundes sei perfekt für Schreiberlinge und zog, nachdem die Wordsworths es 1808 verließen, selbst ein.
Gelebt und gedichtet wurde hier schon lange nicht mehr; seit vielen Jahren kratzten hier keine Federhalter über Papier. Allein das Klingeln der Kassen und das Tapsen vieler Füße war zu vernehmen, aber noch immer verströmte das Cottage einen Gefühlsreichtum, der charakteristisch für Wordsworth war, für die Romantik, für Grasmere, für den Lake District. Hier, im Cottage, bildete das alles eine Einheit, jedenfalls, wenn man in der Lage war, die vielen Leute, die Aufpasser, die klickenden Fotoapparate auszublenden. 70.000 Menschen besuchen das Cottage und das angeschlossene Museum jährlich. Um diese Massen abzufertigen, war hier wie in der restlichen Anlage alles sorgsam aufpoliert worden. Rollstuhlgerechte Rampen waren gebaut, Sanitäranlagen eingerichtet worden. Erst 2004 wurde das Jerwood Center für über drei Millionen Pfund vollendet, ein neues Gebäude, in dem die Kunstkollektion des Museums aufbewahrt – insgesamt über 90 Prozent von Wordsworths Versentwürfen und Manuskripten – und Forschung betrieben wird. Genau genommen besteht es aus zwei Gebäudeteilen, die ein verglaster Tunnel verbindet. Den ersten Entwurf hatte die Lake District National Park Authority 1998 abgelehnt. Auch danach war das Design dieses Gebäudes vor dem Bau etliche Male überarbeitet worden – nur zu verständlich, denn der Versuch, einen Steinwurf entfernt von dem historischen, unter Denkmalschutz stehenden Dove Cottage ein modernes Gebäude zu errichten, das sowohl Historiker als auch Besucher zufriedenstellen sollte, war ein Balanceakt. Angesichts Wordsworths eigenem Fortschrittsgeist, zumindest in frühen Jahren und in der Dichtung, erschien ein neumodischer Glaspalast manchen Leuten als durchaus naheliegend. Aber die Entscheidungsträger einigten sich glücklicherweise auf ein Design mit abgerundeten Natursteinfassaden, das seinem historischen Umfeld gerecht wird und mit seinen Rundungen zugleich behutsam moderne Elemente in die Urtümlichkeit einpasst.
Trotzdem verströmte die gesamte Anlage das Gefühl eines kleinen Disneyland-Themenbereichs. Die tägliche Wordsworth-Manie, die hier gepflegt wurde, schien zudem einen Umstand geflissentlich zu übersehen: Ja, Wordsworth war dem Lake District zeitlebens verbunden gewesen, aber in Dove Cottage war er weder geboren worden noch hatte hier sein letztes Stündlein geschlagen. Er war hier auch nicht von einem Jüngling zu einem grauen Mann gediehen, hatte nicht mit angesehen, wie Setzlinge zu Bäumen erwuchsen. Nicht ein Leben lang, sondern lediglich neun Jahre hatte er in Dove Cottage verbracht – aber diese Zeit war intensiv und überaus ergiebig.
Schließlich wurde das Haus, obgleich mit mehr Zimmern versehen als die meisten Gebäude im Lakeland, zu klein für die zunehmende Zahl an Kindern und die vielen Besucher. Die Wordsworths verkauften es und zogen ins nahegelegene Allan Bank, ein Haus, das William als Beleidigung für die Augen empfand. Nach nur zwei Jahren zogen sie weiter ins alte Pfarrhaus im Zentrum Grasmeres. Sie wechselten noch einmal, dieses Mal ins größere, besser ausgestattete Haus Rydal Mount ein paar Kilometer südlich, nahe Ambleside. Dort blieben Mary und William Wordsworth bis zu ihrem Lebensende.
Am späten Vormittag kehrten Papa und ich zurück ins Herz des Ortes und besuchten einen wundervollen Buchladen an einer Ecke – natürlich keine Filiale einer nationalen Kette, sondern, wie man es in Grasmere erwartet, ein unabhängiger: Sam Read Book Shop. Drei kleine Räume waren vollgestopft mit einer wohldurchdachten Auswahl an Werken. Es gab viele aktuelle Titel, eine große Sektion mit Klassikern der englischen Literatur und eine umfassende Abteilung zum Lake District: zu seiner Geologie und Geschichte, über den Bergbau und die Landschaft. Es gab Fotobände und Reiseführer von Rough Guide und Lonely Planet, aber auch von kleinen lokalen Verlagen, und Biographien über und Werke von Wainwright, Wordsworth und Beatrix Potter. Ich schmökerte eine Weile und entschied mich für Wainwright – The Biography von Hunter Davies, von dem ich schon ein Buch über den Lake District gelesen hatte, und Wainwrights Autobiographie Ex-Fellwanderer. Ich zahlte, sprach der Frau, die hinter dem Ladentisch saß, mein Lob aus und erfuhr, dass sie die derzeitige Besitzerin war: Elaine Nelson. Sie war eine Frau mit Brille, kurzen, blonden Haaren und Augen, die leuchteten wie kleine Edelsteine.
»Es freut mich, dass du dich wohlfühlst«, sagte sie, und ich glaubte es ihr. »Ich nehme das hier sehr ernst. Seit seiner Eröffnung durch Sam Read hatte dieser Buchladen gerade einmal sechs Besitzer. Das war 1887.«
Ich hielt inne und wunderte mich: Ich hatte es gespürt, ohne es zu wissen. Irgendwie war dieser Buchladen anders, charmanter, atmosphärischer als andere. Die lange Zeit, die er schon bestand, die vielen Buchfreunde und zahllosen Naturliebhaber aus verschiedenen Zeiten, die hier stöberten – das Echo ihrer Schritte und das Rascheln der Seiten, in denen sie blätterten, hallte in den kleinen Räumen noch nach.
»Ich sehe, du staunst«, sagte sie lächelnd. »Grasmere ist ein Ort der Dichter und auch heute inspiriert er die Menschen zum Lesen. Vom Ingwerbrot allein kann man nicht leben!«
Sie schien einiges richtig zu machen. Die Buchhandlung, innerhalb der Dorfgrenzen beliebt, aber darüber hinaus kaum bekannt, wurde 2006 von der britischen Times zur besten unabhängigen Buchhandlung des Landes gewählt. Elaine gewährte Grasmere-Einwohnern Rabatt, suchte schnell und verlässlich auch vergriffene Titel im Internet. Zu Weihnachten servierte sie Hackfleischkuchen und das ganze Jahr über konnten Kunden in der Teestube nebenan die erstandenen Werke volltropfen.
Der Vormittag näherte sich seinem Ende. Es wurde Zeit aufzubrechen. Wir liefen zu einer kleinen, kürzlich eröffneten Filiale des National Trust, die zugleich als Verkaufsraum und als Touristeninformation diente. Flyer und Broschüren lagen aus, historische Fotos und Kunstwerke zum Bestaunen und Kaufen hingen an den Wänden, Schals aus kumbrischer Wolle und Produkte von Farmen der Umgebung konnten gekauft werden. Auch Bücher zu und – wasserfeste! – Karten von Grasmere und der Umgebung sowie Hüte und andere elementare Ausrüstungsgegenstände beinhaltete das Angebot. Uns interessierte vor allem eines: das Wetter. Wir baten eine freundliche Mitarbeiterin um eine Auskunft zur Vorhersage. Sie beglückte uns mit der Nachricht, dass es, nachdem es heute noch von tiefhängenden Wolken herabnieselte, morgen wahrscheinlich trocken bleiben würde, und zwar sowohl hier im Tal als auch oben in den Bergen. Wir beschlossen deshalb, nicht wie geplant heute Mittag, sondern erst morgen weiterzugehen. Das verschaffte uns – insbesondere Papa – die Gelegenheit, die riesigen Haselnusssträucher und mit Hexenbesen gespickten Birken näher in Augenschein zu nehmen, die wir gestern nach dem Abstieg von Helm Crag passiert hatten. Heute entdeckten wir den Grund für Papas unverhoffte Glückseligkeit: Eine Schautafel am Rande des Waldes verriet, dass das an seinem Rand gelegene Hotel Lancrigg in Grasmeres noch kleinerem Nachbardorf Easedale hier eine Art verwilderten botanischen Garten pflegte. Wir liefen durch den Garten und den Wald und auch ich konnte beides heute genießen, ohne riesige Berge in den Knochen, ohne Gepäck auf dem Rücken. Ohne Rucksack unterwegs zu sein, verlieh mir ein Gefühl der Schwerelosigkeit und die Fähigkeit, all die Sträucher und Bäume zu würdigen und Papas Ausführungen zu lauschen.
Und nebenbei die Wordsworth-Dröhnung noch zu erhöhen. Denn schon der Dichter und seine Schwester flanierten hier gern. »Wir waren gerade vier Tage in Grasmere«, schrieb Dorothy, »als wir den Spaziergang am Lancrigg entdeckten, der lange unser Lieblingsort blieb.« Während William auf und ab schlenderte und seine Verse dichtete, saß Dorothy am Waldrand im Garten und genoss die friedliche Stille. Ihr und William gefiel der Wald und das Lancrigg Gebäude, das seit 1985 Lancrigg Vegetarian Country House Hotel heißt und in dessen inspirierenden Gemäuern seither zahlende Gäste übernachten, so gut, dass William es 1840 mit dem umliegenden Land für seine Freundin Elizabeth Fletcher von Edinburgh kaufte und es anschließend behutsam renovierte. Elizabeth Fletcher war eine Freidenkerin ganz in Williams Sinne. Sie interessierte sich für Bildung, Reform von Gefängnissen, Frauen- und Sklavenrechte und Revolutionen. Mit dem italienischen Revolutionär Guissepe Mazzini war sie eng befreundet, Lord Byrons Bemühungen im Freiheitskampf der Griechen verfolgte sie aufmerksam. Wie William Wordsworth zählte sie zu ihren Freunden Sir Walter Scott, Samuel Coleridge, Robert Southey und andere wichtige Literaten und Intellektuelle. Einer der besten Freunde ihres Sohnes – auf seinen Reisen in den Norden häufig zu Besuch – war Charles Dickens. Sie alle und zahllose Politiker und Wissenschaftler waren regelmäßige Gäste in Lancrigg. Elizabeths älteste Tochter Mary heiratete in Lancrigg Sir John Richardson, mit dem sie nach dem Tode ihrer Mutter im Jahr 1860 in das ehemalige Farmhaus einzog. Ihm, Sir John Richardson, war zu verdanken, dass der Wald um einige außergewöhnliche Bäume und Pflanzen angereichert war. Er hatte in der ganzen Welt kleine Bäume und Samen gesammelt. Viele Pflanzen, die heute wie selbstverständlich zur britischen Landschaft gehören, wurden erstmals von ihm eingeführt. Als Schiffschirurg hatte er Konteradmiral und Polarforscher Sir John Franklin bei dessen ersten zwei Expeditionen zur Arktis und der Suche nach der Nordwestpassage begleitet und dabei botanische und geologische Beobachtungen gemacht, die er in Büchern verarbeitete. Er war Chefarzt am Royal Naval Hospital in Haslar, Kommandant einer Schiffsreise nach Kanada, Doktor sowohl der Naturwissenschaften als auch der Jura. Queen Victoria schlug ihn zum Ritter, Florence Nightingale, die Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege, war seine enge Freundin. Und wo setzte sich dieser erfolgreiche Mann, der die Welt gesehen und sie wissenschaftlich ergründet hatte, zur Ruhe? Genau hier, am Rande des beschaulichen Grasmere, wo er 1865 auch starb. Von seinen Reisen hatte er den Küstenmammutbaum und Sitka-Fichten aus dem westlichen Nordamerika mitgebracht, Letztere die größten aller Fichten, Chilenische Araukarien aus Südamerika, die Sicheltanne aus Ostasien und viele mehr. Manche schenkte er Charles Darwin, dessen Mentor und enger Freund er war, andere pflanzte er im Lancrigg Wald ein, wo wir uns heute an ihnen erfreuten, ihre Höhe bestaunten, ihre Rinde betasteten. Danke, Herr Richardson.