Durchs wilde Mondulkiri.
„Ich möchte verdreckt sein und verrücktes Zeug essen.“ Das sagte ich Nara zu Beginn unseres Trips und das sollte ich auch bekommen.
Zunächst erinnert die Landschaft mit ihren grünen, abwechselnd von Gras und Buschwerk bedeckten Hügeln noch an das Hinterland des australischen Bundesstaates New South Wales oder an einige Gegenden im Norden Englands. Hier und da erhebt sich niedriger Sekundärwald. Die Menschen haben den Dschungel vor langer Zeit brandgerodet, um Reis zu pflanzen. Dann zogen sie weiter, nutzten neue fruchtbare Böden, die sie urbar machten. Heute verbleiben nur einsame Hütten, die sich mit ihren Reis- und Maniokfeldern, Bananenpalmen und Papayabäumen wie winzige Inseln an ferne Hänge schmiegen. Dies ist Mondulkiri. Sie ist die größte und am dünnsten besiedelte Provinz im Osten Kambodschas. Hier sichert die Jagd nach wilden Tieren und der Anbau von Reis, Obst, Kaffee, Kautschuk und Cashew-Nüssen den Lebensunterhalt vieler Menschen.
Lesereise Kamboscha
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Lesereise Kambodscha – Ein Tuk Tuk in Angkor“ von Erik Lorenz.
- Picus Verlag
- ISBN: 978-3-7117-1057-4
- 132 Seiten, gebunden
- 15,-
- Auch als E-Book erhältlich

Wie auf Schmierseife tasten sich unsere Schritte vorwärts. Der Lehmpfad ist infolge der Regenzeit mit Moos und Algen überzogen. Ebenso vorsichtig schreiten wir über erstaunliche Ameisenstraßen hinweg: Sie sind schmal wie drei aneinandergelegte Finger, aber die Tiere marschieren dicht an dicht in perfekt geschwungenen, mehreren hundert Meter langen Linien. Kein einziges schert aus. Eine Armee in Harmonie – genauso wie die Bäume, auf die wir kurz darauf von einem grasbedeckten Hügelgipfel hinabblicken. Jeder Baum für sich ist eine Wurzel, ein Stamm und eine Krone. Aber gemeinsam bilden sie die Landschaftsart, in die ich auf meinen Reisen stets gern zurückkehre.
Nebelschwaden wabern um die Stämme, die in die feuchte, von winzigen Tropfen behängte Luft ragen und von denen lange Ranken hängen. Die Bäume scheinen sich zu rekeln, jeder scheint – Skulpturen gleich – in einer anderen Position verharrt zu sein. Dazwischen weit ausladende Bambusdickichte mit ihren länglichen Blättern. Das alles ergibt ein Mischmasch aus verschiedenen Grüntönen, Blattarten und Astformen, so dicht und gedrungen, dass die Gewächse gemeinsam eine eigene Einheit formen, in der ich eine Pflanze nicht von der anderen unterscheiden kann. Dies ist, wofür Mondulkiri steht. Dies ist der Dschungel.
Nara steigt auf einem rutschigen Pfad vom Hügel hinab. Ich folge ihm. Ob Naras Name wirklich Nara ist, weiß ich nicht so genau. Jedenfalls klingt er so. Nara kann weder lesen noch schreiben und mir seinen Namen folglich nicht buchstabieren. Was ich sicher weiß: Er ist Anfang dreißig und ein Phnong – das animistische Ureinwohnervolk, das seit Jahrhunderten in diesen Wäldern Mondulkiris lebt. Weil Nara am und im Dschungel aufwuchs, ist er der perfekte Begleiter für meinen Ausflug ins wilde Grün.
Wir treten ein in den Wald und beginnen, uns zwischen von Ranken und Lianen umwickelten Baumriesen hindurch zu schieben. Nach einigen Metern reißt Nara ein langes Blatt ab. Er hält es an seine Lippen, bläst und imitiert so den Ruf eines Eichhörnchens. Ein paar Meter weiter zieht er an einigen unscheinbaren grünen Stängeln: Zum Vorschein kommt eine orangefarbene Wurzel mit wohlriechenden Blüten. „Gut für Bambussuppe“, sagt Nara und zieht kurz darauf weitere Stängel aus der Erde. Ich will helfen, kann aber immer noch kein Merkmal erkennen, das die richtige Pflanze von all den anderen unterscheidet. Auf einer Lichtung fängt Nara schließlich grüne Grillen, indem er sie mit blitzschnellen Handbewegungen von den Blättern hoher Gräser streift. Er reißt ihnen die Flügel aus, damit sie nicht entkommen können, und bewahrt sie in der hohlen Hand als Angelköder auf. Nach etlichen vergeblichen Versuchen schnappe auch ich eine Grille – eine braune. „Nein, nur die grünen“, sagt Nara kopfschüttelnd. Ich lasse meine Beute frei und stapfe ihm hinterher. Und nähere mich mit jedem Schritt einem mächtigen Tosen.
Wir erreichen ein Flusstal, durch das braunes, aufgeschäumtes Wasser strömt. Zu unserer Linken erhebt sich ein Wasserfall, vielleicht sieben Meter hoch und um ein Vielfaches breiter. Die Wassermassen, die die Regenzeit über dem Umland abgeladen hat, wälzen sich über die langgezogene Stufe, aus deren Mitte ein Felsen herausragt, der den Strom unterbricht. Auf dem Felsen wuchert weiteres Buschwerk, es drängt sich wie zu viele Menschen auf einem Rettungsboot. Rechts dieser Unterbrechung hat sich Treibgut gesammelt, zum Teil oberhalb des Falls, zum Teil herunter gespült. Selbst große Bäume hat der Regen aus ihrer Verankerung gelockert und in den Fluss stürzen lassen. Wie riesige Mikadostäbe lehnt nun das durchnässte, tote Holz am Wasserfall, die verrottenden Wurzeln in die Höhe gestreckt, die längst blattlosen Kronen unten im Wasserbecken versenkt.


Nara und ich setzen uns auf eine Steinhalbinsel an der Seite des Falls und rasten. „Wie wäre es mit einem Schluck Tee?“, fragt Nara und hält mir eine kleine Plastikflasche mit trüber Flüssigkeit hin. Ich nehme einen tiefen Schluck, reiße meine brennenden Augen auf und huste. Gackernd zeigt Nara auf mich und ruft unter Tränen: „Reisschnaps! Reisschnaps!“ Er fordert mich auf mehr zu trinken, aber die Wanderung ist ohne das fünfundvierzigprozentige Gesöff in meinen Adern anstrengend genug.
Nara sucht einen Bambusstab, befestigt einen Knochen an einer mitgebrachten Sehne und spießt eine seiner Grillen auf. Geduldig warte ich auf sein Anglerglück. Nach einer halben Stunde fängt er einen kleinen Fisch. Er steckt ihm ein paar Gräser durch Maul und Kiemen und trägt den Fang an dieser Schnur durch den Wald. Wir verlassen das Flusstal, indem wir einige Felsen an der Seite des Wasserfalls hochklettern. Ein paar hundert Meter stromabwärts müssen wir erneut hinab ans Wasser: Ich setze mich auf den Hintern und blicke auf die schlammige, steile Böschung vor mir. Einen Meter unter mir wird der Abhang senkrecht. Ich stoße mich ab, rutsche hinunter und ziele mit meinen Füßen auf eine horizontal verlaufende Liane. Wenn ich sie verfehle oder sie nicht hält, werde ich meine Rutschpartie für drei weitere Meter fortsetzen, bis ich schließlich im Fluss lande.
Es klappt: Die Liane bremst meinen Ritt. Ich halte mich an ihr fest und hangele mich vorsichtig weiter hinunter, bis ich mit den Füßen auf dem unteren Ende eines Baumes stehe – einem wohl fünfzig Meter langen, umgestürzten Ungetüm, das uns als Brücke über den tosenden Fluss dienen soll. Meter vor Meter schiebe ich meine Füße vorwärts. Von der Mitte an wird der Stamm deutlich schmaler. Und er beginnt zu schwingen. Ich kämpfe gegen das Schwindelgefühl, das die Schwingung und der rasch strömende Fluss unter mir auslösen. Dann habe ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen.
Kurz darauf hat uns der Wald erneut verschluckt. Der ohnehin schwache Pfad ist noch schwächer geworden. Genau genommen kann ich keinen Pfad mehr erkennen. Von allen Seiten bedrängt uns das Dickicht. Ich zucke mit den Schultern. Bestimmt nur eine kurze Strecke, in der die Vegetation die Spuren der Menschen besonders energisch getilgt hat. Immer wieder versinken meine Füße im Morast. Stachelige Stämme reißen mein Hemd auf. Und jede Menge Geräusche. Vögel singen ungesehen in den Kronen, Grillen veranstalten ihr lärmendes Konzert, Mücken surren um meine Ohren herum. Und Blutegel winden sich auf dem modrigen Boden und blasen zum Angriff auf unsere Schuhe und Hosenbeine. Nun bin ich, was ich wollte: verdreckt! Bald sehe ich aus, als würde ich seit Monaten im Wald hausen.
Wir schwenken nach links und rechts und wieder nach links. Wo wir anders nicht weiter kommen, schlägt Nara mit einer Machete kleine Schneisen ins Dickicht. Langsam beschleicht mich das Gefühl, dass wir uns weit weniger systematisch durch den Wald bewegen als ich erhofft hatte. Mit anderen Worten: Weiß mein Guide noch, wo wir sind? Ich schaue Nara zu, beobachte, ob er seine Stirn sorgenvoll in Falten legt. Ähnlich wie ich bei Turbulenzen in einem Flugzeug nach kleinsten Anzeichen der Beunruhigung bei den Stewardessen Ausschau halte. Verlieren sie für nur eine Sekunde ihr antrainiertes Dauerlächeln, weiß ich, dass es Zeit ist, in Panik auszubrechen. Aber Nara setzt sein Dschungel-sightseeing unbekümmert fort. Er zeigt mir ein Loch in einem Baum, in dem sich bis vor kurzem eine Bienenwabe verbarg. Auf dem Waldboden liegen noch Reste der Wabe, gemischt mit frischen Holzsplittern.
„Bär“, sagt Nara und deutet auf tiefe, dreißig Zentimeter lange Schrammen am Stamm unter dem Loch. Auch das noch.
Nara pflückt die Blüte einer Bananenpalme und steckt sie in seinen Rucksack. Er schneidet mit seiner Machete jungen Bambus, aus dem er eine Suppe zubereiten will. Später schleicht er mit einer Steinschleuder unter den Bäumen hindurch. Der Blick des Jägers ist dabei gen Himmel gerichtet. Diese Steinschleuder ist kein Spielzeug: Wenn er den Gummi fast einen Meter in die Länge zieht und den Stein zielgenau abfeuert, kann das Geschoss töten. Er legt auf einen Vogel an, der sich wohl zwanzig Meter über uns im Geäst verbirgt und für mich kaum auszumachen ist. Der Stein zischt schneller als das Auge ihm folgen kann durch die vielen Blätterschichten – und verfehlt sein Ziel. Der Vogel flattert krächzend davon. Ich klopfe Nara im Vorbeigehen auf die Schulter und murmle aufmunternd: „Macht nichts!“
„Doch, macht was“, entgegnet er, während seine Augen schon wieder über die Baumkronen gleiten. Dann ruft er mir nach: „Wenn wir nichts fangen, essen wir nichts. Kleiner Fisch und Bambus sind zu wenig für zwei. Wir brauchen Kraft für morgen.“ Ich bleibe stehen.
„Du hast außer dem Reisschnaps nichts mitgebracht?“
„Nein, ich habe nichts mitgebracht. Du wolltest verrücktes Zeug essen.“
Ich stutze für einen Moment. „Alles klar“, sage ich, „wir werden schon nicht verhungern. Wo geht es weiter?“
„Deine Entscheidung“, antwortet er bedeutungsschwanger.
„Meine … Entscheidung?“
„Du wolltest die ausgetretenen Pfade verlassen. Das haben wir getan.“
„Und das heißt…?“
„Ich weiß auch nicht, wo wir sind.“
Ich schaue Nara aus großen Augen an. „Ach, so.“ Ich frage ihn, ob wir den Weg, den wir gekommen sind, zurückgehen sollten.
„Wir sind ständig nach links und rechts abgebogen. Unsere Spuren zurückzuverfolgen könnte Tage dauern.“
Ich atme tief durch. „Trotzdem wirkst du unbesorgt.“
„Ja“, antwortet er, schiebt aber ein „noch“ hinterher.
„Dann kann ich das wohl auch sein“, sage ich. Und suche auf seinem Gesicht nun keine Sorgenfalten, sondern Anzeichen des Schalkes. So recht will ich ihm noch nicht glauben. Sicher will er mir nur etwas Nervenkitzel bereiten.
Die nächsten Stunden irren wir im Dschungel umher. Immer wieder späht Nara mit zu Schlitzen verengten Augen nach oben, in dem vergeblichen Versuch, mit seinem Blick das Blätterdach zu durchdringen und am bleigrauen Himmel den Stand der Sonne auszumachen. Allmählich wächst in mir der Eindruck, dass Nara meinen Wunsch nach einem „Survival Trip in den Dschungel“, ein wenig großzügig ausgelegt hat – und wir uns tatsächlich verirrt haben. „Du bist doch in diesen Wäldern aufgewachsen“, sage ich. „Wie kannst du die Orientierung verlieren?“
„Das habe ich nicht. Ich weiß ich ungefähr, wo wir sind. Aber nicht genau.“
Nicht genau? Für mich klingt das mittlerweile durchaus beunruhigend. Das Tageslicht schwindet, ein beständiger Nieselschauer hat eingesetzt. Auf meine Frage, was wir machen, wenn wir keinen Unterschlupf finden, antwortet Nara trocken: „Du wolltest Dreck. Du bist dreckig. Wir können im Dreck auch schlafen.“
Als das meiste Tageslicht bereits geschwunden ist, erreichen wir eine kleine, abfallende Lichtung, die uns in einer Richtung einen Blick auf unser Umland eröffnet. Ein Windstoß fährt durch meine Haare. Der Himmel über der Lichtung ist tiefschwarz. Er droht mit dunkelgrauen Wolkentürmen, die sich aneinander reiben und übereinander wälzen. Vor den Türmen hängen Regenschleier bis zum Dschungel herab. Und sie kommen bedenklich näher. „Wir haben zehn Minuten“, verkündet Nara.
Wir beginnen hektisch unser Lager aufzubauen. Während ich einige Meter von der Lichtung zurückgesetzt unsere beiden zerschlissenen US-Army-Hängematten zwischen Bäumen aufspanne, entzündet Nara ein Feuer und arbeitet an unserer Mahlzeit. Mit der Machete schneidet er einen großen, grünen Bambushalm so zu, dass das eine Ende offen und das andere durch eine Zwischenwand geschlossen ist. Er stopft die Wurzeln, die Bananenblüte, den jungen Bambus, den Fisch und einen Frosch, den er unterwegs ebenfalls gefangen hat, hinein, gießt etwas Wasser dazu und kocht alles. Derweil versuche ich mehr schlecht als recht, aus den Blättern verwilderter Bananenpalmen einen rudimentären Regenschutz über unseren Hängematten zu errichten.
Ein dumpfes Grollen ertönt. Die Tropfen, die auf meinem Gesicht zerplatzen, werden größer. Ich atme tief ein, nicke mir selbst zu und versuche mir einzureden, dass ich zu allem bereit bin.
Dann bricht es los. Der Regen gewinnt an immer neuer Kraft und wird rasch lauter. Denke ich, das Maximum sei erreicht, scheint der Regengott den Regler eine Stufe weiter zu schieben. Von überall platscht es heran: Die Tropfen sind riesig und prallen mit einer Macht auf den Boden, die sie förmlich explodieren und in vielen kleineren Tropfen in alle Richtungen spritzen lässt. Es ist Regenzeit, und bei Gott, es regnet. Bald können wir uns nur noch schreiend unterhalten. Das Feuer geht aus, die halbgare Mahlzeit kann nur als erbärmlich bezeichnet werden.
Das Unwetter zieht weiter. Meine Uhr zeigt 18:30. Inzwischen ist es stockduster. Die Luft ist spürbar frischer geworden. Die Gegend liegt etwa tausend Meter über dem Meeresspiegel und ist kühler als weite Teile des restlichen Landes. Ich klettere in meine Hängematte und schaukele zitternd hin und her. Versuche etwas zu schlafen. Neben mir schnarcht Nara.
Am nächsten Morgen ist der Waldboden zu tiefem Morast geworden. Nara schlägt mit der Machete den Weg frei, die Schlammschlacht hält an. Blut, das unentwegt in meine Hose und Socken suppt und dunkle Flecken bildet, verrät mir, dass sich schon etliche Egel an mir gelabt haben. Wann immer ich nachschaue, entdecke ich neue vollgefressene Tiere, die an mir hängen wie Kugeln an einem Weihnachtsbaum. In meinem Magen wütet der Hunger und macht alles noch mühsamer.
Wieder müssen wir einen Fluss überqueren, eher durchqueren, denn dieses Mal gibt es keinen Baumstamm. Tiefbraun schäumt das Wasser an uns vorbei, all das Erdreich mitführend, das der Regen von den Hängen ins Flusstal gespült hat. Auch Äste und kleine Bäume werden fortgeschafft.
Schritt für Schritt wagen wir uns vor. Das Wasser geht uns bis zu den Knien, dann bis zur Taille. Es reißt an unseren Schuhen, an unseren Hosenbeinen, will auch uns mitreißen. Mehrmals stoßen unsere Füße an riesige Steine, die sich im Strom verbergen und über die wir steigen müssen. Wir packen uns an den Händen und geben uns gegenseitig Halt. Nara würde vermutlich behaupten, er gäbe mir mehr Halt als ich ihm.
Keine Atempause. Auf der anderen Seite wartet ein langer Aufstieg. Zwei Stunden später erkennt Nara erste Geländemerkmale. Wir folgen einem Hügelkamm, steigen einen letzten, sanften Hang hinab und … erreichen schließlich am Nachmittag Naras Heimatdorf. Häuser aus Holz, Bambus und Stroh. Auf der einzigen, wohl so gut wie nie befahrenen Schlammstraße laufen Wasserbüffel mit mächtigen Hörnern und große Schweine frei herum.


Hier arbeitet Nara für gewöhnlich auf den Feldern. Von hier bricht er zu Jagdausflügen in den Wald auf. Und von hier bringt er mich nun auf einem halbautomatischen Motorrad in die Provinzhauptstadt Sen Monorom. Als die Sonne ihre letzten Strahlen über das Land schickt, schält sie sich zwischen den Hügeln heraus, an deren Flanken sie sich schmiegt. Fünf Minuten später bin ich abgestiegen und gehe allein durch die kleine Stadt. Und wundere mich einmal mehr, ob wir tatsächlich auch nur für eine Sekunde in Gefahr waren oder ob hier jemand, der ja immerhin in diesen Wäldern aufgewachsen ist, die Kunst der Illusion zelebriert hatte. Dennoch schreite ich unwillkürlich in einer feierlichen Haltung die Straße entlang – und würdige in Gedanken meine wohlbehaltene Rückkehr in die Zivilisation.
Jedenfalls für ein paar Augenblicke. Drei französische Damen, die gerade von einer halbtägigen Wanderung aus dem Dschungel zurückgekommen sind, sprechen mich an. Ungeachtet des zerrissenen Hemdes. Ungeachtet des Drecks an meinen Armen und der getrockneten Blutflecken auf meiner Hose. Ungeachtet des Gestanks. Oder beeindruckt sie gerade das? Fühlen sie sich von der Aura des Überlebenskampfes angezogen, vom geheimnisvollen Atem des Dschungels, der mich gerade erst wieder ausgehaucht hat?
„Hallo, wie geht es dir?“, begrüßen sie mich floskelhaft, um sich dann eine nach der anderen vorzustellen. Nachdem ich etwas mürrisch meinen eigenen Namen genannt habe, drückt die eine ihre Wange auf meine und macht einen Luftkuss, der in einen lautstarken Schmatzer mündet. Ich mache ein überraschtes Gesicht, komme aber nicht dazu, etwas zu sagen. Die Zweite will mir ebenfalls ihr Begrüßungsritual aufzwingen: Sie hat sich schon eingereiht und rückt lückenlos nach. Da ich mich nicht rühre, muss sie einen langen Hals machen. Und ich frage mich, ob ich gerade wirklich zwei Tage durch den Schlamm der wildesten Provinz Kambodschas gerobbt oder nicht doch bei einem Strickverein an der Côte d’Azur zum Smalltalk gelandet bin. Nein, denke ich, so geht das nicht. Ich bin ein Mann des Waldes, ein Bezwinger der Wildnis! Ich lasse mich von Blutegeln aussaugen und von stacheligen Ästen aufspießen – aber nicht abknutschen. Als die Letzte im Bunde schon ihre Lippen spitzt, gebe ich ihr einen freundschaftlichen, kräftigen Klaps auf die Schulter. „Na, alles frisch?“
Die Schulter sackt ein paar Zentimeter herab, die Augen weiten sich verblüfft, die aufeinander gepressten Lippen fahren auseinander.
Und der Bussi zerplatzt in der Luft.
© Fotos: Erik Lorenz