Seit Khim Sok Touristen zu den Tempeln fährt, fühlt er sich frei.
Von Erik Lorenz.
Es war die Freiheit, die Khim Sok suchte, als er seine Stelle als Rezeptionist in einem Hostel aufgab und sich in die Ungewissheit stürzte. Er lieh sich von einem Bekannten ein Tuk Tuk und kämpfte um jeden Kunden. Die ersten Monate reichte das mühsam erarbeitete Einkommen gerade, um die Miete für die motorisierte Rikscha zu bezahlen. Er sparte eisern und kaufte nach einem Jahr harter Arbeit für fünfhundert US-Dollar sein eigenes, gebrauchtes Tuk Tuk.
„Seitdem bin ich frei“, sagt Khim und lächelt zufrieden, auch wenn das Geld in der touristenarmen Zeit von März bis August kaum genügt, damit seine Familie und er satt werden. Er hat eine Frau und zwei kleine Söhne. Mit ihnen teilt er sich ein Zimmer in einem schlichten Mietshaus. Khim sagt dazu: „Früher habe ich für sicheres Gehalt in einem schäbigen Hostel gearbeitet. Heute habe ich kein sicheres Gehalt – und ich lebe in einem schäbigen Raum. Aber weißt du was? Ich würde die gleiche Entscheidung wieder treffen. Es ist wegen der Freiheit.“
Sechs Jahre nachdem er seine sichere Anstellung aufgegeben hat und hunderte Kunden später ist es noch immer das Gefühl der Freiheit, das Khim zu dem fröhlichen Menschen macht, der er ist. Er lacht herzhaft und oft, aber immer mit einer gewissen Zurückhaltung, die der Respekt vor den Kunden ihm zu gebieten scheint.


Wir sind auf dem Weg zu den Ruinen von Angkor. Entstanden zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert, sind sie ein zeitloses Zeugnis der Baukunst der alten Khmer. In steinernen Stätten, die einst bis zu eine Million Menschen bevölkerten, tummeln sich heute neben Archäologen vor allem Touristen – ein Segen für die Tourismusindustrie von ganz Kambodscha und das täglich Brot von Khim, der den Besuchern aus aller Welt die Tempel mit seinem Tuk Tuk zeigt. Auf dem Weg, den er schon so oft zurückgelegt hat, hält er den Kopf nach links und rechts, lässt sich den Fahrtwind um die Ohren und durch das tiefschwarze Haar wehen. Es ist leicht zu erkennen, dass er seine Arbeit genießt.
Halb fünf am Morgen beginnt sich das Dunkel der Nacht mit silbernen Fäden zu durchsetzen, einem ersten Schimmer des heraufdämmernden Tages, der mich die kleinen Affen, die beiderseits der Straße in den Bäumen herumspringen, als flinke Schatten erahnen lässt. Rechtzeitig bevor die Sonne aufgeht hält Khim an einem Parkplatz und lässt mich aussteigen. Ich geselle mich zu Dutzenden anderen Touristen, die zur frühen Stunde aufgebrochen sind, um den roten Feuerball über Kambodschas Nationalsymbol aufgehen zu sehen. Langsam, mit jeder Minute etwas deutlicher, heben sich die gezackten, nach Lotosblüten geformten Türme vom grauen Hintergrund ab. Erste Lichtstrahlen schießen wie goldene Pfeile um ihre schwarzen Umrisse, Ahnungen werden zu sichtbaren Details, Fotoapparate klicken. Elegant und kolossal zugleich ragen die fünf Türme in den Himmel, der größte von ihnen fünfundsechzig Meter hoch, erwachsend aus einem Meer aus riesigen, wohlgeformten Steinen. Hier erhebt sich die zentrale Tempelanlage dieser majestätischen Dschungelhauptstadt: einst Zentrum der größten vorindustriellen Stadt der Welt, heute Überbleibsel einer lange vergangenen Zeit, aber immer schon pure steingewordene Kraft. „Es gibt ein paar Orte auf der Welt“, schrieb der 2004 verstorbene Journalist und Schriftsteller Tiziano Terzani, „an denen man stolz darauf ist, der menschlichen Gattung anzugehören. Einer davon ist zweifellos Angkor.“




Es ist mehr als eine Aura von Altehrwürdigkeit, die die Steine umgibt: Das Alter scheint förmlich an ihnen zu kleben. Man spürt die riesige Zeitspanne, die diese gewaltigen, symmetrisch angeordneten Bauwerke hier bereits stehen. Auf mehr als zweihundert Quadratkilometern verteilen sich in der Region Angkor um die tausend historische Stätten und Tempel. Einige der bekanntesten liegen nur ein paar Kilometer auseinander, so dass man ein Dutzend von ihnen mit dem Fahrrad oder einem Tuk Tuk in zwei oder drei Tagen besichtigen kann, bevor die unvermeidliche Tempelmüdigkeit eintritt. Ta Som, East Mebon, Pre Rup, Srah Srang, Ta Keo, Prasat Kravan, Preah Khan, Neak Pean, Leak Neang … Selbst der größte Tempelnarr muss hier irgendwann ermattet, aber unendlich beeindruckt aufgeben. Aber heute ist es noch nicht so weit.
Khim wartet schon darauf, den nächsten Tempel anzusteuern. Er ist es gewohnt zu warten. Bei einer Tour in die Tempelstadt verbringt er den Großteil der Zeit damit, sich auf der gepolsterten Rückbank des Anhängers auszustrecken oder sich mit anderen Fahrern zu unterhalten, bis seine Kunden den jeweiligen Tempel erkundet haben und zum nächsten gebracht werden wollen.
„Aber am liebsten unterhalte ich mich mit meinen Kunden“, sagt er und zwinkert schalkhaft. Es ist nicht ganz klar, ob er es ernst meint oder nicht. „Doch, wirklich“, beteuert er angesichts meines zweifelnden Blicks. „Das Beste an meinem Job ist, dass ich Freunde aus der ganzen Welt gewinne. Du musst wissen, ich komme aus der Takeo Provinz, weit entfernt von Siem Reap und Phnom Penh und jeder anderen großen Stadt.“
In seiner Kindheit hat er nichts von der Welt mitbekommen. Seine Familie hatte kein Radio und keinen Fernseher – heute besitzt er beides. „Aber noch besser ist, dass ich Leute aus all den fernen Ländern treffen kann, von denen ich früher höchstens die Namen kannte und über die ich sonst nichts wusste.“ Durch die Gespräche mit Fremden gewinne er viele neue Ideen, über die er nachdenken könne, während sie durch die Tempel spazierten.
Aber Khim lauscht nicht nur den Geschichten aus fernen Ländern, er hat auch selbst etwas zu erzählen. Anstatt seine Kunden bei den Tempeln abzuladen wie eine Postsendung, hält er jedes Mal einen kleinen Vortrag, in dem er ihre Wahrnehmung schärft und ihnen erklärt, worauf sie achten sollen.
„Das hinter mir ist der Bayon Tempel“, sagt Khim nun und deutet mit einer weiten Geste über einen Teich hinweg auf das vertikale, mit meterhohen Steingesichtern übersäte Labyrinth. Grünes Moos und Flechten wuchern auf den mächtigen Zügen der in Fels gehauenen Fratzen, durch die sich Risse und Sprünge ziehen. Monumentale Steine wurden hier übereinandergeschichtet und mit höchster Kunstfertigkeit bearbeitet. Es sind beinahe fünfzig Türme, gespickt mit überlebensgroßen Antlitzen mit steinernen Mündern, Augen und Nasen, und komplexe, in Stein geschnitzte Szenen mit Figuren, die elegante Gewänder tragen. Meine Augen wissen nicht, an welchem jahrhundertealten Detail sie sich zuerst laben sollen.


„Es ist der Haupttempel von Angkor Thom“, fährt Khim fort, „der einstmaligen Hauptstadt des Khmer-Reiches. Nahezu zehn Quadratkilometer war sie groß, und die alte Stadtmauer verläuft noch heute in diesem Umkreis. Jayavarman VII., König von Kambuja, das du als Angkor kennst, hat gegen Ende des zwölften Jahrhunderts mit ihrem Bau begonnen. Er war ein guter Herrscher. Doch ein paar Jahrhunderte später vertrieben feindliche Thai die Khmer, und die Tempel verfielen und gerieten in Vergessenheit. Seit zwanzig oder dreißig Jahren werden sie nun restauriert, in ganz Angkor, Stück für Stück, die wichtigsten zuerst. Es sind so viele, dass die Aufgabe endlos sein wird.“
Khim möchte nicht nur Fahrer sein – er möchte dazu beitragen, dass seine Kunden erfassen, was sie sehen. „Ich lese viele Bücher und lasse mir viel erzählen, damit ich mein Wissen über die Tempel, über die Architektur und die Geschichte, an meine Kunden weitergeben kann. Eines Tages möchte ich lizenzierter Fremdenführer in Angkor Wat werden.“
Und was ist mit der Freiheit?
„Ich liebe das Tuk-Tuk-Fahren“, sagt Khim und lacht verlegen, „aber es ist nicht immer leicht. Es gibt mehr und mehr Fahrer. Mittlerweile gibt es mehr von ihnen als Touristen, und viele streiten erbittert um jeden Kunden. Sie kämpfen an Busstationen und sie kämpfen an Kreuzungen. Es ist nicht leicht.“
Es fällt mir schwer, mir Khim bei einem erbitterten Wettstreit vorzustellen.
„Nein“, sagt er, „ich kämpfe mit niemandem.“ Er habe einen ruhigen Stellplatz gefunden. Dort warte er auf Touristen und spreche sie an, wenn sie an ihm vorübergingen. „Manchmal habe ich Glück, manchmal nicht. Aber streiten und schreien, das tut mir nicht gut.“
Für immer könne er den Job wohl nicht machen. Es wird jedes Jahr mühsamer. Als Führer, so hofft Khim, kann er regelmäßigeres und besseres Geld verdienen. Aber zuerst müsse er lernen. Das sei ein weiterer Grund, weshalb er Tuk-Tuk-Fahrer geworden sei: Er könne sich den Tag besser einteilen und hätte mehr Zeit, sein Wissen über Angkors Geschichte zu vertiefen und sein Englisch zu verbessern. Ein guter Führer wisse über jedes Detail der Tempel Bescheid und verfüge über die Fähigkeit, Geschichte für Leute unterhaltsam zu machen, die von weit her kommen.
Jahrelange Lehrgänge in Tourismus, Geschichte und Englisch sind nötig, und das Bestehen verschiedener Prüfungen. Zwischen zwei- und viertausend US-Dollar kostet so eine Ausbildung zum vom Tourismusministerium lizensierten Führer. Sie sind berechtigt, eine beige Uniform zu tragen und Touristen durch die Haupttempel zu führen, während Tuk-Tuk-Fahrer wie Khim vor den Toren warten müssen, bis die Touristen ihre Rundgänge beendet haben. Bis Khim offizieller Führer in Angkor Wat ist, werden wohl noch viele Jahre vergehen.
Weiter geht es, erst zu Fuß zur nördlich gelegenen Elefantenterrasse, zum pyramidenförmigen Tempel Phimeanakas und zur Terrasse des Leprakönigs, dann mit dem Tuk Tuk in Richtung Osten. Das gleichmäßige Surren des Motors begleitet die Fahrt über gerade, flache Straßen, an deren Rändern sich Banyan- und Tamarind-Wälder erstrecken, durchsetzt mit einzelnen Palmen.
Ta Prohm ist Khims Lieblingstempel, weil ihn die Restauratoren im Gegensatz zu den meisten anderen in seinem natürlichen Zustand belassen und nicht von den Bäumen befreit haben, deren Wurzeln Steinquader, Torbögen und ganze Hallen seit Jahrhunderten in ihrem unerbittlichen Würgegriff halten, sich in das Mauerwerk pressend und Stein zersprengend. Heute bilden die Feigenbäume und die noch mächtigeren Tetramelaceae eine Einheit mit dem Stein, den sie umhüllen, gefangen halten und vielerorts zugleich stützen, und es scheint, als wäre es nie anders gewesen.


„Ich war auch mal wie diese Felsklötze“, sagt Khim und lächelt erneut. Die Erinnerung bereitet ihm offenbar kein großes Unbehagen. „Gefangen, festgehalten, ohne jede Bewegungsfreiheit. In meinem Fall waren die Wurzeln, die mich hielten, unsichtbar, aber sie sorgten dennoch dafür, dass ich Tag und Nacht hinter der Rezeption stehen musste. Kein Bewegungsfreiraum. Und jetzt? Haha!“
Lachend schwingt er sich auf seine Maschine und startet den Motor.
„Einsteigen und festhalten!“, ruft er über die Schulter, dann dreht er am Gasgriff. Es ist Zeit für den Rückweg. Khim arbeitet ungern mehr als acht Stunden am Tag. Der Nachmittag hat begonnen, und er will noch ein paar Lehrbücher wälzen.
© Fotos: Erik lorenz
Lieber Herr Lorenz, begeistert lese ich gerade ihr Laos Buch Streifzüge. Eine wunderbare Vorbereitung auf unsere Laos Reise. Im Anschluss fahre ich wieder nach Kambodscha, um ein bestimmtes Webedorf nage Siem Reap zu besuchen. Ich freue mich immer wenn ich Fahrern helfen kann. Bei all meinen Besuchen fahre ich mit Mr. Sambo, der mir inzwischen zum Freund geworden ist. Nun, ich freue mich wenn sie eine Nummer von Khim haben, falls er noch fährt, oder mir eventuell die Khmerbrücke zeigen möchte oder das Seidenmuseum. Z. B. Falls es sich ergeben sollte. Haben Sie Kontakt zu ihm? Ist er inzwischen Guide geworden? Ichbglaube mich an die Geschichte aus einem Picus Buch zu erinnern.
Herzliche Grüße aus Wien, Klaus Rink
Hallo Herr Rink, vielen Dank für Ihre Nachricht! Freut mich, dass Ihnen das Laos-Buch gefällt (dazu gibt es übrigens gewissermaßen eine Fortsetzung – wie das von Ihnen angesprochene Kambodscha-Buch erschienen im Picus Verlag). Ist es Ihr erster Trip nach Laos? Kambodscha haben Sie offenbar ja schon erkundet … Khim Sok hatte zwischenzeitlich mit einigen persönlichen Rückschlägen zu kämpfen und ist immer noch Tuk Tuk Fahrer, freundlich und zuverlässig. Ich werden Ihnen seine Kontaktdaten zumailen. Viele Grüße!
Danke für den Kontakt. Ich hörte aus einigen Erzählungen, das Geschäft in Siem Reap sei sehr bescheiden, seit einigen Monaten. Ein Guesthouse in der 26 Strasse musste intwischen schließen. Ich war im März zuletzt dort. Grund des Kurzbesuches war eine kleine Veranstaltung: “Silkwormfestival” 2017 im Dorf von IKTT ( Institute for Traditional Textiles) mit ebenfalls einer Niederlassung in Siem Reap ( Road to Lake) eine ( meine) Herzensangelegenheit. Wenn Sie mehr dazu erfahren möchten, ich habe eine Buchrezension zu einem Bildband geschrieben. Über eben dieses Dorf. Mr. Kikuo Morimoto hat die alte Tradition quasi geretttet vor dem Vergessen, nach den schlimmen Jahren. Ich schreibe Interessierten gerne mehr dazu.
in Laos war ich zuletzt 2007. bin schon gespannt. Herzlich,
Klaus
Ja, das die Touristenzahlen in Siem Reap zuletzt stark zurückgegangen sind, ist mir bekannt, u.a. durch Khim Sok. Die Ursachen sind mir allerdings nicht klar … Wie ist denn Ihr Kontakt zu den Seidewebereien / Weberdörfern entstanden? Sie scheinen sich diesbezüglich ja sehr zu engagieren/interessieren, wenn Sie extra anlässlich des Festivals nach Kambodscha reisen…?