Von Jonathan Ponstingl.
Die Beine werden zur Last, immer wieder rutschen die Füße über das vom Schnee glitschige Geröll. In den Lungen brennt die eisige Luft. Ein schmaler Flusslauf zieht sich entlang des Weges und immer wieder dieser Hund, der anhält, wartet, seltene Entgegenkommer misstrauisch beäugt. Wann war das Tier eigentlich dazu gekommen? Plötzlich stand es da, war fortan Wegbegleiter. Es ist zugig in Kazbegi und wenn die Sonne weg ist auch kalt. Irgendwo dort drüben beginnt Russland. Der Weg zur Dreifaltigkeitskirche ist nicht schwer zu finden. Sagen sie alle. Einfach den Berg hoch, durch das kleine Dorf hindurch. Oben auf dem Berg thront die Dreifaltigkeitskirche von Gergeti, eines der beliebtesten Postkartenmotive des Landes. Ein Berg wie ein Kegel, auf dessen Spitze ein erhabener Außenposten Gottes seinen Dienst tut.


Spätestens an der dritten Weggabelung ist die Orientierung verloren. Hinter einem rostigen Maschendrahtzaun quiekt vergnügt ein Schwein im Dreck, als würde es die Touristen verhöhnen, die sich unmittelbar neben seinem Gehege angestrengt den Kopf reiben. Auf der anderen Seite strömen aus einem offenen Gatter ein Dutzend magere Kühe auf die Straße, ausgefranste Haarbüschel stehen in Irokesenmanier in alle Richtungen. Der scheidende Winter hat sie sichtlich ausgezehrt, ein Esel ist auch darunter. Einige Meter die Straße hinunter ertönen laute Rufe. Wir drehen uns um, ein Mann zeigt nach links. Er wird es wohl wissen, denken wir, nur um uns eine halbe Stunde danach zu fragen, ob er uns wohl absichtlich in die Irre geführt hat. Sicherlich, der kleine Bergbach plätschert idyllisch zwischen rundgeschliffenen Felsen hindurch, die daran angrenzenden Schneeverwehungen tauchen das schmale Tal in eine bizarre Winterlandschaft. Auf halber Strecke überblickt ein bröckelnder Wachturm aus dem Mittelalter das Geschehen.



Kazbegi befindet sich mitten im großen Kaukasus, jener gigantischen Gebirgskette, die Russland von den kaukasischen Ländern Georgien, Armenien und Aserbaidschan abgrenzt. Eine talgewordene Enklave inmitten opulenter Berglandschaften. Gut 200 Kilometer führt die georgische Heerstraße von der Hauptstadt Tiflis aus Richtung Norden, reicht dabei in Blickweite an die Konfliktregion Südossetien heran. Fünf Tage schwelte dort die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Russland und Georgien 2008, beinahe die gesamte georgische Bevölkerung verließ Südossetien. Mehrere hundert Menschen starben. Auch heute noch haben die Russen ihre Truppen unweit von Zchinwali stationiert, der inoffiziellen Hauptstadt der Region, deren Souveränität nur von Russland, Nicaragua, Venezuela und Nauru anerkannt wird. Der Konflikt ist nicht gelöst.
Nur mit Mühe konnte das Marshrutka, ein Sammeltaxi, das in Georgien den Nahverkehr besorgt, den Jvari Pass erklimmen. Mit schnaubendem Motor quälte es sich die Serpentinen nach oben. Im tiefen Winter liegt hier oft so viel Schnee, dass die 2379 Meter hohe Passhöhe nicht überquert werden kann. Dann stauen sich die Lastwagen kilometerweit entlang der Fernverkehrsstraße, die die einzige Verbindung in die Kazbegi Region ist und eine Hauptverkehrsader zwischen Moskau, Georgien, Armenien und Iran.
Mitten durch Kazbegi führt diese Straße. Keine 20 Kilometer weiter nördlich beginnt Russland. Der russische Einfluss in der Region ist stark, die erste Fremdsprache ist hier keineswegs Englisch, sondern Russisch, wenn es nicht sowieso schon die Muttersprache ist. Jeder zweite LKW, der durch den Ort fährt, ist russischen Fabrikats; die Straßenschilder sind neben Georgisch in Russisch beschriftet. Stepanzminda ist die zentrale Ortschaft der Region Mzcheta-Mtianeti, besser bekannt als Kazbegi. Viele der Touristen hier stammen aus dem schier übermächtigen Nachbarn im Norden.
Tamaz Saakadze steht Zigarette rauchend auf dem Dorfplatz von Stepanzminda. Englisch spricht er kaum aber es reicht um mit Edding-beschriebenen Pappschildern zu verdeutlichen wohin es geht. Tamaz‘ Auto ist ein privates Taxi, das Fahrgäste in den Sommermonaten zu den Trekkingpfaden der Umgebung transportiert und im Winter hoch zur Kirche. Ja es existiert auch eine Straße, aber vor allem nach Gudauri, dem beliebtesten Skiressort Georgiens auf der anderen Seite des Passes. Bis in den Mai hinein reicht hier die Saison.
Wir steigen in den verbeulten Lada, russisches Kennzeichen, russisches Fabrikat, und machen es uns gemütlich für die Fahrt den Berg hinauf. Nach nicht einmal einer Minute biegt Tamaz rechts ab und fährt in die Einfahrt eines Hofes. Sein eigenes Haus, erklärt er. Wir müssten auf seinen Sohn warten. „Der Lada schafft es nicht die steile Straße zum Pass hinauf.“ Der beinlange Sprung in der Windschutzscheibe stimmt ihm stumm zu. Ein Kaffee in seiner Küche müsse schon sein, während wir auf den Sohn warten, der angeblich ein richtiges Auto dabei hat. Irgendwo hinter der Küche wiehern ein paar Pferde – die haben vermutlich mehr PS als der Lada.
Der Sohn kommt nicht. „Muss zur Gergeti Kirche hoch“, sagt Tamaz. Scheinbar haben ein paar gut zahlende Touristen den Sohn bereits gebucht. Also lädt Tamaz uns erneut in seinen Lada mit dem Sprung in der Windschutzscheibe. Beide Hände umklammern fest das Lenkrad, immer wieder wechselt er die Spur um mannsgroßen Schlaglöchern auszuweichen. Tamaz ist ein hutzeliger Mann in den Sechzigern mit tief zerfurchtem Gesicht. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich inzwischen mit Touristen, wie die meisten im Ort.
Irgendwie schafft es der Lada den Berg hinauf und am Ende des Tages glücklicherweise auch wieder hinunter nach Stepanzminda an der russischen Grenze. In der Kazbegi Region haben sie ein gutes Verhältnis zu Russland. Für das übrige Georgien gilt das nicht unbedingt. Infolge der Rosenrevolution von 2003 und der Übernahme des Präsidentenamtes durch Michail Saakaschwili versuchte sich Georgien von Russland zu lösen sowie die wirtschaftliche Abhängigkeit zu verringern und wendet sich an Europa. In der Schule lernen sie jetzt Englisch. Seit 2006 ist Georgien Teil der europäischen Nachbarschaftspolitik. Studenten nehmen an Austauschprogrammen mit Mitteleuropa teil, lernen neue Kulturen kennen, werden Teil des Westens. Georgier können nun ohne Visum in die EU reisen.

In Kazbegi ist der Einfluss russischer Kultur nach wie vor stark. Niemand stört sich daran. Auf dem Weg zur Dreifaltigkeitskirche von Gergeti ohnehin nicht. Wie die Schiene einer Murmelbahn schlängelt sich der Pfad einmal um den Berg, greift ihn von hinten wieder an und trifft oben auf dem 2170 Meter hohen Plateau wieder auf die “befestigte Straße”. Wobei “befestigt” in diesem Fall bedeutet, dass eine braune Erdbahn eine ebene Fläche zum Laufen markiert. Ein letzter Anstieg noch, vorbei an dem Wohnwagen, der hier oben als Hotdog-Stand fungiert, und die oberste Bastion georgisch-orthodoxen Christentums ist erreicht.
Hier oben zieht der Wind, von den Steinkanten, die den kleinen Vorhof der Kirche umzäunen, wirkt der Fall ins Tal endlos. Rund um die Kirche erstreckt sich ein ehemaliges Gletschertal, dass sich bis Russland durchzieht, während sich im Hintergrund die Begründung des Mythos um die Kuppelkirche in den Himmel erhebt: Der Kazbeg. Georgiens dritthöchster Berg ist ein wahrer Gigant so kurz vor der Grenze Russlands. Der große Kaukasus ist nicht nur optisch massiv. Fliegt man mit dem Flugzeug in die Tifliser Talsenke ein, sieht man die mächtige Bergkette im Norden und kann sich schwerlich vorstellen, was wohl dahinter liegen mag. Ähnlich ergeht es sibirischen Kaltluftfronten, die sogar in Europa für arktische Temperaturen sorgen können. Am großen Kaukasus aber kommen sie selten vorbei. Deshalb ist es in Kaukasien, also den Ländern Georgien, Armenien und Aserbaidschan, in der Regel wärmer als – geographisch gesehen – wenige Kilometer weiter nördlich in Russland. Die gewaltige Wand aus Stein hält sie schlicht auf. In Georgien begünstigen die milden Temperaturen den Anbau von Wein. Das Land gilt als Geburtsstätte des gegorenen Traubensaftes, aus dessen Abfallprodukten sie Tschatscha herstellen – ein georgischer Tresterbrand, ähnlich dem italienischen Grappa oder dem griechischen Tsipouro.

Die Dreifaltigkeitskirche vor dem Kazbeg ist nach wie vor ein aktives Gotteshaus. Kaum vorstellbar nach dem kräftezehrenden Marsch hinauf – mit dem Auto ist die Kirche von Stepanzminda jedoch in 20 Minuten erreichbar.
Das Innere der Kirche ist ein paradoxer Widerspruch zur Szenerie davor. Draußen ist es kalt, man wünscht sich vor den Kamin in der Pension. Die Fingerspitzen fühlen sich an, als würden sie erfrieren. Erst nach vehementem Drücken öffnet sich die eisenbeschlagene, braune Holztür. Mit einem Klirren der dahinter befestigen Metallkette, treten wir ein. Es ist dunkel, kein einziges elektrisches Licht scheint in der Kirche. Aus kleinen Oberlichtern und Lüftungsschlitzen ringt Tageslicht hinein. Den Rest besorgen dünne Stabkerzen, die in Sandschalen gesteckt für eine Aura wie in einem religiösen Verschwörungsfilm sorgen. Dazu ist es erstaunlich warm. In der Ecke bollert ein Kohleofen, der den gesamten Raum mit Wärme füllt. Auf dem Boden und an den Wänden sind Teppiche ausgelegt, mit Motiven von Gott und der Jungfrau Maria. So gar nicht das, was man an diesem – plakativ gesagt gottverlassenen Ort – erwartet hätte und ein Gegensatz zu den uns bekannten deutschen Kirchen. Vor der Tür ist es bitterkalt, im Inneren der steinernen Kirche mollig warm. Unmittelbar neben der Tür sitzt ein Geistlicher auf seinem Schemel und verkauft die überall brennenden Stabkerzen. Er trägt ein schwarzes Gewand und eine schwarze Haube auf dem Kopf; sein Gesicht ziert ein ebenso schwarzer Rauschebart, der ihn wie einen dunklen Nikolaus erscheinen lässt.
Vor der Kirche ist die Kälte wieder zurück. Im Winter fällt das Thermometer hier schnell auf Minus Zehn Grad Celsius. Der Ausblick auf den Kazbeg und das, was wohl Russland sein muss, erwärmt die Gemüter. Der Hund hat den Aufstieg auch geschafft. Er streckt seine Schnauze in den Wind; posiert für ein Foto. Auf dem Weg zurück eilt er an einer Serpentine plötzlich davon. Wir vermuten, dass es für ihn dort nach Hause geht. Wir laufen in die andere Richtung. Später stellen wir fest: Wir hätten dem Hund folgen sollen.
Hintergrund Infos Kazbegi
Anreise
Mehrere Airlines bringen Sie direkt nach Tiflis. Von dort mit einem der lokalen Marshrutka oder einem Sammeltaxi nach Kazbegi. Die Fahrt dauert etwa drei Stunden.
Unterkunft
Die Tourismusindustrie in Kazbegi ist relativ jung, die Unterkünfte entsprechend neu und modern. In Stepanzminda übernachtet man gemütlich im Cozy Hotel ab 35 € / DZ. In Gudauri sind die Hotels größer und teurer. Komfortabel ausgestattet ist etwa das New Gudauri Residences and Spa ab 66 € / DZ.
Reisezeit
Der Sommer reicht von Mitte Mai bis Ende September und bietet ideale Voraussetzungen zum Wandern. Von Juli bis August kann es in den Talsenken sehr heiß werden; die Temperaturen erreichen dann durchaus die 40 Grad Celsius Marke. Im Winter ist das Wandern auf einigen Wegen nicht mehr möglich, dafür öffnen dann die Skiresorts ihre Pforten.
Visum
Georgien ist seit einigen Jahren Teil der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Ein Visum benötigen EU-Bürger nicht mehr.